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Fahrradmesse: Was die Welt der Fahrräder so verrückt macht

Fahrradmesse

Was die Welt der Fahrräder so verrückt macht

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    Räder, nichts als Räder: Mit einer bereiften Demonstration weisen diese Berliner auf Verkehrsprobleme in ihrer Stadt hin.
    Räder, nichts als Räder: Mit einer bereiften Demonstration weisen diese Berliner auf Verkehrsprobleme in ihrer Stadt hin. Foto: Omer Messinger, Imago

    Verrückte Sachen gibt es auch. Natürlich gibt es die. Auf jeder Messe gibt es verrückte Sachen. Also hin zu A1 709 – ohne solche Koordinaten ist man auf einer Messe mit 1400 Ausstellern verloren. In der Fünf-Quadratmeter-Nische des kanadischen Herstellers Wike sagt ein bis über beide Ohren strahlender Mittvierziger „Hi“ und zeigt auf seine verrückte Sache im Sinne von „Darf ich vorführen?“. Imaginärer Trommelwirbel – und los geht’s. Er drückt eine Fußraste, schmiegt dann die hintere Hälfte per Schwenkarm an die vordere rechte Seite, und das Lastenfahrrad „Salamander“ mit dem überdachten Kindersitz verwandelt sich binnen drei Sekunden in einen Kinderwagen. Und, schwupps, in drei Sekunden wieder zurück. Die praktische Verrücktheit kostet 3000 kanadische Dollar, also knapp 2000 Euro.

    Der Mann wird noch den ganzen Tag drücken und schwenken und dabei bis über beide Ohren strahlen. Das Ding soll ja verkauft werden auf der Eurobike in Friedrichshafen am Bodensee, der weltweit wichtigsten Fachmesse für die Fahrradbranche. Und das andere verrückte Neuheiten-Sortiment auch. Die Rahmen in gewöhnungsbedürftiger Holzoptik, für Frostbeulen die beheizten Überschuhe, die speziellen Unterhosen „für den urbanen Pendler“.

    Aerodynamik ist alles: das Triathlonrad „Shadow-R“ von Ceepo.
    Aerodynamik ist alles: das Triathlonrad „Shadow-R“ von Ceepo. Foto: Ceepo

    Nun wäre es ungerecht, diese jährliche Produktparade auf solche Kuriositäten zu reduzieren. Das würde der technischen Innovationskraft der Branche nicht gerecht und auch nicht ihrem Erfolg. Dieser steht vor allem mit einem Produkt in Verbindung: dem Elektrorad. Das Pedelec, bei dem ein Motor das Treten unterstützt und damit erleichtert, hat das Radfahren – dies ist keine Übertreibung – revolutioniert. Gingen die Verkaufszahlen in Deutschland jahrelang schon durch die Decke, sind sie 2017 noch einmal stark gestiegen, um 19 Prozent auf 720000 Stück. 3,5 Millionen sind bereits auf den Straßen unterwegs. Und die ersten Monate 2018 liefen auch wieder prächtig. Jedes fünfte verkaufte Rad ist heute ein Pedelec. Langfristig, schätzt der Zweirad-Industrie-Verband, könnte es jedes dritte sein.

    Das E-Rad steht für die neue Lust am Radfahren. Folglich lockt es neue Kunden an. Menschen, die dem Radeln bislang wenig abgewinnen konnten oder denen es zu anstrengend war. Senioren und Wiedereinsteiger. Pendler, die, genervt von Stau-, Parkplatz- und Abgasproblemen in den Städten, vom Auto aufs Pedelec umsteigen.

    Noch nie gab es so viele Verletzte bei Radunfällen in Bayern

    So sagenhaft diese Geschichte ist, so schmerzhaft ist eine Begleiterscheinung: Wo mehr Menschen fahren, passiert auch mehr. Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der Radunfälle. 2017 haben sich in Bayern 14800 Radler verletzt, 19 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor – und so viele wie noch nie. 70 Menschen verloren ihr Leben. Und das sind nur die offiziellen Zahlen der Polizei.

    Der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft hat vor einigen Monaten eine Studie veröffentlicht, aus der erstmals hervorging: Die hohe Zahl der Unfälle hängt stark mit dem Pedelec-Boom zusammen. Siegfried Brockmann, Leiter der dortigen Unfallforschung, sagt, Ursache sei „meist der Kontrollverlust über das Pedelec, bei älteren Fahrern auch unangepasste Geschwindigkeit“. Womöglich führe der E-Motor „zu einem den eigenen Fahrfähigkeiten nicht angepassten Fahrstil, der ohne die Tretunterstützung nicht möglich wäre“. Man darf nicht vergessen: Es bedarf keines großen Kraftaufwands, um eine Geschwindigkeit von 25 km/h zu erreichen. Die Folgen sind jedenfalls gravierend: „Pedelec-Fahrer verunglücken schwerer als Fahrradfahrer ihrer jeweiligen Altersgruppe.“

    Was kommt da auf uns zu, wenn immer mehr E-Radler auf die Straße drängen? Zunächst einmal eine schier ungebremste Flut an neuen Modellen und Accessoires. Auf der Eurobike haben sie einen eigenen Bereich nur für Lastenräder geschaffen, der eine Ahnung davon vermittelt, welche Einsatzmöglichkeiten im Alltag denkbar sind. Da stehen sie dann in ihrer ganzen Wucht und lassen den E-Anfänger fragend zurück: Und dieses Gewicht soll ich durch die Gegend treten? Tja, elektrisch geht das.

    Es geht: das E-Rad als Müllfahrzeug, mit Mülltonne, Schaufel und Besen zwischen den beiden Vorderrädern. Als mobiler Imbiss mit Grill am Heck. Als Getränkelieferant oder Kindertransport mit Neigetechnik. Und der E-Postbote ist längst schon Alltag. So verkehrstechnisch sinnvoll, gesundheitlich wertvoll und umweltfreundlich Fahrzeuge dieser Art sind: Sie benötigen Platz auf den eh schon chronisch überlasteten Radwegen.

    Hinzu kommt, dass E-Bikes auch optisch attraktiver geworden sind. So verbauen immer mehr Hersteller den Akku im Rahmen, statt ihn beispielsweise am Gepäckträger anzubringen. Allein dieser Fortschritt im Design, glaubt die Fachzeitung SAZbike, hat die Popularität noch einmal gesteigert. Heißt: noch mehr Verkehr. Und noch mehr Unfälle? Experte Brockmann zumindest sagt: „Da kommt einiges auf uns zu.“ Weil die Zahl der Radfahrer schneller steige, als die Infrastruktur wächst. „Dafür geschieht dann doch zu wenig.“

    Auch in der Industrie?

    Kindergurte in Lastenrädern sind Standard

    Also noch einmal ein Rundgang auf der Eurobike, diesmal mit Blick auf die Sicherheit. Kindergurte in Lastenrädern sind Standard, das ist die gute Nachricht. Andere Produkte sind eher noch in der Nische und/oder eine Frage des Preises. Beim E-Modell „Homage“ von Premiumhersteller Riese & Müller ist ein Antiblockiersystem von Bosch im Einsatz. Weil auch der Rest vom Feinsten ist, kostet das Rad gewaltige 5300 Euro. Massentauglicher klingt das Bremslicht, das Busch+Müller entwickelt hat und 2019 auf den Markt kommt. Die Sonnenbrille von TriEye mit eingebautem Rückspiegel? Nun ja…

    Das wichtigste Utensil eines Radfahrers für seinen eigenen Schutz ist der Helm. Der Münchner Rechtsmediziner Wolfram Hell hat viele Radunfälle untersucht und festgestellt, dass Opfer oft auf die Kopfseite oder die Schläfe fallen. Viele ältere Helme schützen diese Partie nur unzureichend. Mittlerweile haben die Hersteller aber deutlich nachgebessert, und auch immer mehr Testlabore überprüfen die Helmqualität mit moderneren Verfahren.

    Sicherheit kann auch bunt sein: Kinderhelme der Firma Woom.
    Sicherheit kann auch bunt sein: Kinderhelme der Firma Woom. Foto: Woom

    Nun gibt es viele Ursachen für Radunfälle. Schlechtes Wetter und rutschiger Boden. Fehlende Radwege. Radler, die zu schnell und rücksichtslos fahren, ihr Fahrzeug nicht im Griff haben. Lastwagenfahrer, die beim Abbiegen Radler an Ampeln übersehen – wenn es um Todesfälle geht, „das Hauptproblem“, sagt Unfallforscher Brockmann. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer will deshalb Unternehmen dazu bringen, ihre Lastwagen mit einem Abbiege-Assistenten, einem elektronischen Warngerät, nachzurüsten. Wie er das ohne Verpflichtung schaffen will, ist unklar.

    Und dann ist mit den Pedelecs ein weiteres Problem aufgetaucht. Das legt zumindest eine Studie der Technischen Universität Chemnitz nahe. Demnach unterschätzen viele Autofahrer die Geschwindigkeit von E-Bikern. Die Forscher vermuten: Das entspannt wirkende Fahren der Radler suggeriert, viel langsamer unterwegs zu sein, als sie tatsächlich sind. Zudem stellten auch die Chemnitzer fest, dass gerade Ältere in Unfälle verwickelt sind – weil sie gerne schneller fahren, als es ihre Fähigkeiten erlauben.

    Viele Akteure müssen also an vielen Stellschrauben drehen, sollen die Unfallzahlen nicht weiter steigen. Siegfried Neuberger ist Chef des Zweirad-Industrie-Verbandes. Die Eurobike ist für ihn eine Art Dauerkonferenz, in den vielen Gesprächen geht es auch immer wieder um Sicherheitsfragen. Tja, die Unfälle: „Es gibt durch die Pedelecs mehr Radler auf der Straße und diese fahren auch viel mehr“, fängt er an. Deshalb will er zusammen mit dem Fachhandel erreichen, dass mehr ältere Kunden Kurse besuchen, wie sie beispielsweise die Verkehrswacht anbietet. Das ist das eine.

    Und was die Produkte betrifft: Neuberger verweist darauf, dass der Gesetzgeber erst 2017 die Straßenverkehrsordnung geändert hat, um so Dinge wie Bremsleuchten oder Tagfahrlicht für Fahrräder zuzulassen. „Über kurz oder lang werden diese auf dem Massenmarkt ankommen“, glaubt er. Und zumindest im Hochpreisbereich habe auch ABS eine Zukunft. „Dass die Preise dafür noch so hoch sind, liegt an den niedrigen Stückzahlen.“ Man betrete ja Neuland mit diesem Thema.

    Sind Warnsysteme wie im Auto die Lösung?

    Mit Neuland kennt sich Nicolas Mellinger aus. Es ist früher Nachmittag, unten in den Messehallen verpflichtet die Gegenwart zum Abschluss guter Geschäfte, und oben im Konferenzraum „London“ wagt der Ingenieur von der Technischen Universität Kaiserslautern vor einem Häuflein von vielleicht zehn Zuhörern einen ziemlich revolutionären Blick in die Zukunft. Wie wäre es, wenn man Fahrassistenzsysteme, wie man sie vom Auto kennt, auf Fahrräder übertragen würde? Eine Frontkollisionswarnung also, durch einen Piepton, eine Warnleuchte oder eine Vibration im Griff. Was aktiviert würde, so jedenfalls die Theorie, würde beispielsweise jemand in unmittelbarer Nähe am Fahrbahnrad eine Autotür öffnen. Oder eine Spurverlassenswarnung, einen Blinker, einen Radar zur Warnung vor rückwärtigem Verkehr – solche Sachen untersucht Mellinger derzeit in einem Forschungsprojekt. Die ersten Ergebnisse, die er an diesem Tag vorstellt, sind gerade eine Woche alt.

    Die Studie mit ein paar Dutzend Freiwilligen, so viel steht fest, zeigt einige hoffnungsvolle Ansätze, zumindest, was das Sicherheitsgefühl der Fahrer betrifft. Natürlich bleiben da offene Fragen: Wie zuverlässig sind die Systeme? Wie früh oder spät müssen sie ausgelöst werden? Funktionieren sie auch bei einem unübersichtlichen Streckenverlauf, etwa wenn sich Straße und Radweg abwechseln? Und wie teuer sind sie? Eines steht für Mellinger fest: „Solche Instrumente können nur dazu dienen, den Fahrer zu warnen. Direkt in den Lenker einzugreifen, wäre viel zu riskant.“

    Unten am Stand des Industrie-Verbandes wird Siegfried Neuberger später darauf hinweisen, dass das alles ja „sehr interessant“ sei. Aber „das Fahrrad lebt doch auch davon, dass es einfach zu bedienen ist“. Von daher müsse man sehr genau schauen, welche Sicherheitssysteme wirklich Sinn machen.

    Dann lieber Helmpflicht? „Wir sind dagegen, weil sie dazu führen würde, dass die Menschen weniger fahren.“ Wenn Helm, dann nur freiwillig. Die Fachhändler sind übrigens mit dem Absatz von Helmen außerordentlich zufrieden, zeigt eine Umfrage. Was auch wieder an den Pedelecs liegt. Verrückte Welt.

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