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Diesel-Skandal: Warum deutsche VW-Fahrer weniger bekommen als US-Kunden

Diesel-Skandal

Warum deutsche VW-Fahrer weniger bekommen als US-Kunden

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    Viele Diesel-Fahrer rechnen nach dem Diesel-Skandal mit Wertverlusten ihrer Fahrzeuge. Doch anders als in den USA ziert sich Volkswagen in Deutschland mit Entschädigungen, beklagt der Augsburger Jurist Thomas Möllers.
    Viele Diesel-Fahrer rechnen nach dem Diesel-Skandal mit Wertverlusten ihrer Fahrzeuge. Doch anders als in den USA ziert sich Volkswagen in Deutschland mit Entschädigungen, beklagt der Augsburger Jurist Thomas Möllers. Foto: Jan Woitas, dpa

    Herr Professor Möllers, amerikanische VW-Kunden bekommen mindestens 1000 Dollar Entschädigung aufgrund der Diesel-Manipulation oder können ihr Auto zurückgeben. Deutsche Kunden nicht. Wie kann das sein? Machen Sammelklagen den Unterschied, die es in den USA für Verbraucher gibt, aber nicht in Deutschland?

    Professor Thomas M.J. Möllers: Das ist ein wichtiger Punkt. In den USA gibt es den zivilrechtlichen Weg der Sammelklage, der es dem geschädigten Käufer sehr einfach erlaubt, einer Klage beizutreten. Dabei muss man wissen, dass in Amerika der Prozess grundsätzlich den Kläger nichts kostet. Nur wenn man gewinnt, zahlt man dem Anwalt als Erfolgshonorar 30 Prozent des Gewinns, falls man verliert, zahlt man aber nichts und vermeidet damit das

    Nämlich welcher?

    Möllers: In den USA kennt man das Instrument der „punitive damages“, also eine Art Strafschadenersatz, der über den tatsächlich erlittenen Schaden hinausgeht. Im deutschen Zivilrecht kann man nur den eingetretenen Schaden geltend machen, in den USA bis zu dem 1000-fachen. Das heißt, wenn man 1000 Euro Schaden verursacht, zahlt man schon einmal 500 000 Euro Strafe und noch mehr, wenn man besonders verwerflich handelt. Das ist mit ein Grund, warum die Behörden das Unternehmen auch viel schneller zu einem Vergleich drängen als in Deutschland.

    Weshalb können Kunden in den USA viel mehr Schadenersatz einklagen als in Deutschland?

    Möllers: Zum einen will man besonders verwerfliches Handeln bestrafen. Zum anderen will man in den USA sicherstellen, dass der durch die Schädigung erzielte Gewinn des Konzerns abgeschöpft wird. Angenommen, ein Konzern macht 200 Millionen Euro Gewinn, weil er 100000 Autos manipuliert hat. Um den Gewinn abzuschöpfen müssten in Deutschland alle 100000 Geschädigten klagen und 2000 Euro Schadenersatz bekommen, während in den USA eine erfolgreiche Sammelklage ausreichen kann. So kommen die dort üblichen hohen Schadenersatzsätze zustande.

    Haben wir also eine Lücke im deutschen Recht, weil es die Sammelklage für Verbraucher nicht gibt?

    Möllers: Wir haben eine Lücke im deutschen und im europäischen Recht. Die Europäische Kommission will seit Jahren die Sammelklage in der EU vereinheitlichen. Bisher gibt es aber nur eine Empfehlung, die rechtlich nicht bindend ist. Länder wie Frankreich, Italien und die Niederlande haben Sammelklagen bereits eingeführt. Die Kommission will nun einen zweiten Anlauf wagen.

    In der alten Bundesregierung hatte SPD-Justizminister Heiko Maas den Entwurf für eine Sammelklage vorgelegt, die aber nie zum Gesetz wurde. Was halten Sie von dem Vorstoß?

    Professor Thomas M.J. Möllers ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an der Uni Augsburg.
    Professor Thomas M.J. Möllers ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an der Uni Augsburg. Foto: Lehrstuhl Professor Möllers

    Möllers: Der Referentenentwurf hatte einige gute Ansätze, war aber auf halbem Wege stehen geblieben. Der Entwurf sah gemeinsame Schadenersatzklagen für Verbraucher vor. Er ermöglichte einen einfachen Beitritt für 10 Euro. Das Klagerecht hinsichtlich der Sammelklage sollte aber auf Verbraucherverbände und Industrie- und Handelskammern beschränkt werden, ohne dass Kanzleien ein Klagerecht gehabt hätten. Und der Schadenersatz sollte im Zweifelsfall an die Bundeskasse gehen. Der Effekt wäre: Außer Spesen nichts gewesen....

    Den VW-Kunden hätte der Maas-Entwurf also nicht genutzt?

    Möllers: Er hätte den VW-Kunden nicht genutzt, weil er eine Lex Volkswagen enthielt. Das Gesetz sollte erst nach 2019 in Kraft treten und Ansprüche gegen VW wären dann bereits verjährt.

    Warum tun wir uns in Deutschland so schwer mit der Sammelklage?

    Möllers: Die Unternehmen haben Angst vor amerikanischen Verhältnissen, Angst vor einer Anwaltsindustrie die wirtschaftliches Handeln unkalkulierbar macht. Ich sehe diese Gefahr nicht. Denn „punitive damages“ kennen wir in Europa ebenso wenig wie Erfolgshonorare für Anwälte nach US-Vorbild. Ich rate von beidem auch ab. Was die Sammelklage betrifft, ist es aber überfällig, es den Amerikanern gleichzutun, um das Prozessrisiko der Geschädigten zu verringern. Würde in einem Prozess etwa festgestellt, dass die manipulierten Motoren mangelhaft sind, müssten nicht jeder Käufer einzeln klagen.

    Anders als Verbraucher können Aktionäre in Deutschland bereits gemeinsam klagen. Wie sehen die Erfahrungen aus?

    Möllers: Ja, seit zwölf Jahren gibt es in Deutschland ein Gesetz, das nach den Klagen von 17000 Aktionären gegen die Telekom eingeführt wurde – das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz, kurz KapMuG. Die Kläger gingen damals gegen die

    Weshalb das?

    Möllers: Weil trotzdem 17000 Kläger einzeln klagen müssen und nur einzelne Feststellungsziele, wie etwa die Fehlerhaftigkeit des Börsenprospekts, im Musterverfahren für alle Kläger geklärt werden. Es kommt damit gerade nicht zu einer gemeinsamen Sammelklage. Die Folge ist, dass bis heute kein Kläger auch nur einen Cent gesehen hat. Der Musterkläger ist inzwischen verstorben.

    Auch im Fall VW müssen in Deutschland bisher alle Geschädigten einzeln klagen. Es gibt tausende einzelne Klagen, die laufen. Ist das nicht eine Belastung für die Gerichte?

    Möllers: Auf jeden Fall. Sammelklagen haben drei Ziele. Das erste Ziel ist, den Kläger zu ermutigen, zu klagen, weil sich das Prozessrisiko für den Einzelnen reduziert. Zum zweiten sollen Gerichte entlastet werden. Als drittes dient das Verfahren dem Gerechtigkeitsgedanken, den Schaden auszugleichen und sicherzustellen, dass der Gewinn nicht beim Schädiger verbleibt.

    Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD nun abermals die Sammelklage vorgesehen. Diesmal soll das Gesetz spätestens zum 1. November 2018 in Kraft treten, damit es nicht zur Verjährung kommt. Ist das nun die Lösung?

    Möllers: Wenn jetzt die drohende Verjährung verhindert werden soll, wäre eine Schwachstelle korrigiert. Ich glaube aber nicht daran, dass das Parlament das Gesetz so schnell verabschieden wird.

    Ist der VW-Skandal unzureichend aufgearbeitet worden?

    Möllers: Tatsache ist, dass VW bis heute den Dieselskandal nicht aufgearbeitet hat. Da VW die Manipulation eingeräumt hat, war der Fall eigentlich unstrittig. Während aber Siemens hat nach dem Korruptionsskandal eine neue Compliance-Struktur zur Selbstkontrolle eingeführt und wichtige Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats ausgetauscht. Bei VW ist der Finanzchef Pötsch zum Aufsichtsratschef geworden und der Porsche-Vorstand Müller zum Vorstandsvorsitzenden von VW. Frau Christine Hohmann-Dennhardt, die von Daimler kam und neue Strukturen einführen sollte, musste nach wenigen Monaten gehen. Statt Aufklärung dominiert Verschwiegenheit und Geheimhaltung. Ein Neuanfang sieht anders aus. Es gibt bis heute kein unabhängiges Aufsichtsratsmitglied! Die Verfilzung mit der Gewerkschaft und der Politik dauert fort. „Too big to fail“, ist die Devise. Zu groß, um es scheitern zu lassen. Weil VW als größtes Unternehmen Deutschlands zu groß ist, gewinnt man den Eindruck, es genieße eine gewisse Narrenfreiheit. Bis heute ist man erstaunt, wie zahnlos die Politik und die einschlägigen Aufsichtsbehörden gegenüber VW reagieren. Alle einschlägigen Fragen in den Bereichen Steuer-, Umwelt-, Kaufgewährleistungs-, Unlauterkeits-, Kapitalmarkt-, Gesellschafts- und Strafrecht sind noch nicht einmal ansatzweise geklärt, sondern weiter offen. In den USA musste Volkswagen dagegen mehr als 20 Milliarden Euro zahlen. Gegebenenfalls hätte man das Unternehmen zerschlagen oder in die Insolvenz gehen lassen können.

    Eine Zerschlagung von VW wäre aber auch ein drastischer Schritt...

    Möllers: Für einen demokratischen Rechtsstaat ist das Vertrauen in das Recht und damit die Rechtsdurchsetzung elementar. In den USA funktioniert die Rechtsdurchsetzung. Folglich werden Unternehmen an der Börse höher bewertet als in Deutschland. Der niedrige Börsenkurs deutscher Unternehmen macht es sehr einfach, Aktien deutscher Unternehmen zu erwerben, Kuka und Daimler sind deutliche Beispiele. Mit einem Gesetz über Sammelklagen würde man den geschädigten Bürger und der deutschen Wirtschaft als Ganzes helfen.

    Professor Thomas M. J. Möllers, 56, ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an der Universität Augsburg.

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