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Interview: Verdi-Chef: "Wir bereiten uns für den ersten Homeoffice-Streik vor"

Interview

Verdi-Chef: "Wir bereiten uns für den ersten Homeoffice-Streik vor"

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    Verdi-Chef Frank Werneke erklärt, wie die Gewerkschaft der Corona-Pandemie begegnet.
    Verdi-Chef Frank Werneke erklärt, wie die Gewerkschaft der Corona-Pandemie begegnet. Foto: Gregor Fischer, dpa

    Was fehlt Ihnen am meisten in Corona-Zeiten?

    Frank Werneke: Mir fehlt es, vor Ort sein zu können, etwa auf Betriebsversammlungen. Mir geht das Treffen mit Kolleginnen und Kollegen ab, also das Rauskommen aus der Berliner Blase, in der wir uns hier befinden. Auf die Dauer ist es unbefriedigend, nur per Telefon, Videokonferenzen und Mails zu kommunizieren. Wir können als Verdi noch so tolle Videos drehen und ins Netz stellen, aber das ist immer nur der zweitbeste Weg, um in der Öffentlichkeit zu wirken. Und ein schöner Restaurantbesuch wäre auch mal wieder eine feine Sache.

    Tragen Sie eine Maske?

    Werneke: Ich habe eine der sogenannten Alltagsmasken bei mir für den Fall, dass ich das Mindestabstandsgebot von 1,50 Meter einmal nicht exakt einhalten kann. Ich benutze sie deshalb in Geschäften.

    Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat sich ja dafür ausgesprochen, das Händeschütteln auch nach Corona sein zu lassen. Wie wollen Sie das handhaben?

    Werneke: Ich bin schon oft privat in Asien gewesen. Dort ist es üblich, sich nicht die Hände zu schütteln und sich anders zu begrüßen – auch so kann Zuneigung zum Ausdruck gebracht werden. In unserem Kulturkreis gehören das Händeschütteln und auch die physische Kontaktaufnahme zu Menschen, die einem wichtig sind, bislang dazu. Mich würde es freuen, wenn der Handschlag auch in Zukunft für uns möglich bleibt.

    Am Tag der Arbeit  ruft Verdi zur Online-Demonstration auf

    Was macht Verdi am 1. Mai, dem Tag der Arbeit? Wie demonstriert eine Gewerkschaft in Zeiten sozialer Zwangsdistanz?

    Werneke: Für den 1. Mai hat der Deutsche Gewerkschaftsbund nach Abstimmung mit Verdi und den anderen Einzelgewerkschaften alle Großveranstaltungen abgesagt. Wir werden also keine Präsenzdemonstration, sondern eine Online-Demonstration von 10.30 Uhr ab veranstalten. Normalerweise nimmt an den Demonstrationen am 1. Mai ungefähr eine halbe Million Menschen teil. In diesem Jahr verbietet das Ziel, Menschenleben zu retten, solche Großveranstaltungen.

    Wie geht das denn? Sitzen da Gewerkschafter mit roter Nelke und roter Fahne alleine zu Hause vor dem Bildschirm?

    Werneke(lacht): Sich mit einer roten Fahne und Nelke vor den Bildschirm – oder vor die Tür – zu setzen, ist hoch willkommen. Und es ist auch erlaubt, sich ein Bier aufzumachen. Auf alle Fälle finden alle dann über einen Link auf der DGB-Homepage Zugang zur digitalen Mai-Kundgebung mit Statements und Videos von Mitgliedern. Auch Musik gibt es. Ich bin aber froh, wenn wir dann am 1. Mai 2021 wieder mit tausenden Kolleginnen und Kollegen auf den Plätzen stehen.

    Auf alle Fälle sind Warnstreiks mit mehreren hundert Leuten Corona-bedingt nicht möglich. Schmälert das die Schlagkraft von Gewerkschaften?

    Werneke: Wir haben in den vergangenen Wochen sogar sehr viele Tarifverträge abgeschlossen. Es ist in vielen Branchen und Unternehmen gelungen, das Kurzarbeitergeld von 60 Prozent und 67 Prozent für Arbeitnehmer mit Kindern aufzustocken. Und das auf mindestens 80 Prozent, in einigen Fällen sogar auf 90 bis 100 Prozent. Das ist nicht so lückenlos gelungen, wie ich mir das im optimalen Sinne gewünscht habe. Aber dennoch, wir haben das ohne Streiks, aber mit der Autorität einer Gewerkschaft von zwei Millionen Mitgliedern in Videokonferenzen und Telefonschalten hinbekommen. Bei der Telekom haben wir übrigens außerdem einen regulären Tarifabschluss mit fünf Prozent mehr Gehalt für 24 Monate erkämpft. Für die nächsten Tage müssen wir leider auch Vorbereitungen für den ersten Homeoffice-Streik von Verdi treffen.

    Beschäftigte könnten auch im Homeoffice streiken

    Das klingt interessant.

    Werneke: Ich kann leider den Namen des Unternehmens noch nicht nennen. Nur so viel: Ein Finanzdienstleister will die Krise ausnutzen, um Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern. Wenn das Unternehmen nicht einlenkt, werden die Beschäftigten auch im Homeoffice die Arbeit niederlegen und die Laptops zuklappen.

    Braucht man nicht für die Arbeit im Homeoffice klare Regeln in dem Durcheinander von Kindern, Küche und kapitalistischem Broterwerb?

    Werneke: Eine der Hauptlehren aus der Corona-Zeit ist für mich: Homeoffice muss in normalen Zeiten absolut freiwillig sein. Denn die Arbeit im Homeoffice hat eben auch erhebliche Nachteile: Menschen, die nicht über eine 100-Quadratmeter-Wohnung verfügen, tun sich schwer, Arbeits- und Privatleben zuhause zu vereinen, gerade wenn sie Kinder haben. Wir erleben durch Corona einen Digitalisierungsschub, das ist positiv. Aber auch für diese Zukunft braucht es Arbeitsschutz - auch durch Tarifverträge.

    Viele Beschäftigte werden noch Wochen im Homeoffice verbringen, doch immerhin dürfen nun schrittweise mehr Geschäfte aufmachen. Handels-Vertreter haben das Vorgehen der Bundesregierung aber sogleich als willkürlich kritisiert, schließlich dürfen nur Geschäfte zusätzlich öffnen, deren Verkaufsfläche 800 Quadratmeter nicht überschreitet.

    Werneke: Das ist willkürlich, ist aber auch notwendig. Der Handelsverband Deutschland übt zwar Kritik, hat aber nie brauchbare Vorschläge auf den Tisch gelegt, außer dem Vorschlag, man solle wieder alle Geschäfte gleichzeitig öffnen. Doch dass nicht alle Geschäfte gleichzeitig geöffnet werden können, liegt auf der Hand, wenn man das Infektionsrisiko nicht leichtfertig erhöhen will. Auf alle Fälle gehört jetzt vor jede Kasse eine Plexiglasscheibe.

    Und nach Ihrer Ansicht gehört auch die Kurzarbeiterregelung finanziell gerade für die Bezieher kleinerer Einkommen nachgebessert. Hier beißen Sie aber innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch auf Granit.

    Werneke: Viele Unternehmen etwa aus dem Handels- oder Tourismusbereich sind erstmals von Kurzarbeit betroffen. Dort gibt es keine bestehenden tarifvertraglichen Regelungen. Gerade Bezieher kleinerer Einkommen - und hier vor allem Frauen und Teilzeitbeschäftigte - trifft das besonders hart. Die müssen sich dann mit 60 Prozent ihres Nettoeinkommens begnügen, was für viele Betroffene hinten und vorne nicht reicht. Die Betriebe bekommen hingegen 100 Prozent Lohnersatz. Das ist eine krasse Ungerechtigkeit. Deswegen bleiben wir hart und halten an unserer Forderung an die Bundesregierung fest, das Kurzarbeitergeld aufzustocken. Am besten durch eine Vorgabe an die Arbeitgeber, andernfalls durch eine gesetzliche Erhöhung.

    Jeden Tag bitten tausende Menschen die Gewerkschaft Verdi um Hilfe

    Ist die Lage für viele Beschäftigte wirklich so ernst?

    Werneke: Sehr ernst. Pro Tag rufen uns mehrere tausend Mitglieder an, die uns um Unterstützung bitten. Hinzu kommen tausende E-Mails. Da ist die Not für mich zu greifen. Nehmen Sie nur die Gastronomie sowie Friseurinnen und Friseure: Da sind Trinkgelder für die Beschäftigten extrem wichtig, um überhaupt über die Runden zu kommen. Und diese Trinkgelder gibt es ja nun nicht mehr. Hier besteht die Gefahr, dass Menschen millionenfach in das Hartz-IV-System reinrutschen. Grade aus dem Friseurbereich erreichen uns alarmierende Meldungen von Verdi-Mitgliedern. Da werden zum Teil Auszubildende sogar in Kurzarbeit geschickt. Es ist nicht zu akzeptieren, dass Adidas vier Milliarden Euro an Staatsgeld einstreicht und gleichzeitig Friseurinnen und Friseure nicht mal das Kurzarbeitsgeld aufgestockt bekommen, um auf das Existenzminimum zu kommen. Das ist krass ungerecht.

    Doch CDU- und CSU-Verantwortliche scheint das nicht zu beeindrucken.

    Werneke: In der Tat herrscht hier in der Unions-Bundestagsfraktion eine Hartherzigkeit, die aus meiner Sicht mit dem christlichen Menschenbild nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Zumindest unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion unsere Vorstellungen. Wir werden nicht lockerlassen. Der Bundestag tagt ja in der kommenden Woche. Da haben die CDU- und CSU-Abgeordneten die Chance, gerade den von Kurzarbeit betroffenen Geringverdienerinnen und Geringverdienern mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen.

    Wernecke: Höhere Staatsverschuldung ist verkraftbar

    Doch wie soll Deutschland diese Unsummen an Kurzarbeitergeld finanzieren? Die Bundesagentur für Arbeit verfügt zwar über ein Finanzpolster von rund 26 Milliarden Euro, aber schon etwa 725.000 Betriebe haben Kurzarbeit angemeldet. Das könnte eng werden.

    Werneke: Diese rund 26 Milliarden Euro wurden von den Beitragszahlern finanziert. Das ist kein Steuer- oder Gottesgeschenk. Ehe wir jetzt diskutieren, wer wann was bezahlt, sollten wir zuerst einmal in einigen Wochen einen Strich unter die Corona-Rechnung ziehen. Ich halte es jedenfalls für absolut verkraftbar, mit einer höheren Staatsverschuldung zu leben, als uns jetzt schon über die Tilgung aller staatlichen Corona-Darlehen den Kopf zu zerbrechen. Die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse hat sich für diese Generation ohnehin erledigt. Ich vermisse die Schuldenbremse überhaupt nicht.

    Nicht erledigt ist jedoch die Frage, wie Dienstleistungsberufe, deren Bedeutung in der Krise vielen bewusster wurde, auch finanziell aufgewertet werden können.

    Werneke: Schon vor der Corona-Krise ist es Verdi gelungen, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Krankenpflege oder Kitas spürbare Einkommenszuwächse durchzusetzen. Wir wollen aber noch mehr. Auch im Einzelhandel. Dort sind außerdem fast 800.000 Mini-Jobberinnen und Mini-Jobber beschäftigt ohne Anspruch auf Kurzarbeitsgeld, die jetzt völlig ins Leere fallen. Insgesamt gilt: Es besteht Handlungsbedarf. Applaus allein reicht nicht. Wir brauchen bessere Tarifverträge und höhere Löhne etwa für die Beschäftigten im Einzelhandel und in der Altenpflege. Nach der Krise rufen wir das Tarifvertrag für Tarifvertrag wieder auf. Vorher sollen diese Mitarbeiter für ihre besondere Leistung aber schon belohnt werden und 500 Euro mehr im Monat für die Zeit der Krise bekommen. Einzelne Gesundheitseinrichtungen und Einzelhändler zahlen den Beschäftigten bereits eine Anerkennung.

    Doch Beschäftigte in Kliniken und Altenheimen klagen über zum Teil unzumutbare Arbeitsbedingungen und nicht ausreichend vorhandene Schutzausrüstungen.

    Werneke: Im Gesundheitswesen wird von den Beschäftigten Herausragendes geleistet. Es ist eine großartige Leistung, dass es gelungen ist, die Zahl an Intensivbetten und Be-atmungsgeräten deutlich zu steigern. Eine der Corona-Lehren lautet für mich aber: Die Verantwortlichen in Deutschland haben viel zu wenig Reserven an Schutzausrüstung für Krisenzeiten gebildet. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung gewesen, hier für mehr Sicherheit zu sorgen. Masken oder Grundstoffe für Medikamente dürfen nicht nur in Fernost, sondern müssen wieder ausreichend in Europa produziert werden. Deutschland hat sich zu sehr auf internationale Lieferketten verlassen, die jetzt zerbrechen.

    Neben Kurzarbeit auch mehr Entlassungen zu erwarten

    Viele Bürger sind skeptischer geworden, was die weitere wirtschaftliche Entwicklung betrifft. Kommt das dicke Ende im nächsten Jahr?

    Werneke: Ich gehe davon aus, dass es nicht nur bei Kurzarbeit bleibt, sondern leider auch im höheren Maße zu Entlassungen kommt. Die Zahl der Kündigungen steigt aktuell schon an. Positiv ist: Ein Ende des Shutdown, also des Herunterfahrens der Wirtschaft, ist erkennbar.

    Woraus speist sich Ihr Optimismus?

    Werneke: Ich setze neben Kurzarbeit und Liquiditätshilfen für die Unternehmen darauf, dass die Bundesregierung noch dieses Jahr ein massives Konjunkturprogramm aufsetzt, sobald die Geschäfte wieder alle offen haben. Damit können wir den Konsum stimulieren. Verbraucher werden Konsumwünsche nachholen. Nach einer starken Delle könnte Deutschland so allmählich auf ein normales wirtschaftliches Niveau zurückfinden.

    Bundesfinanzminister Scholz stößt nun eine Gerechtigkeitsdebatte an, wie nach der Corona-Krise die Lasten besser verteilt werden können. Was muss sich nach Corona in Deutschland gesellschaftlich ändern?

    Werneke: Wir brauchen eine gerechtere Finanzverteilung in Deutschland. Wichtig ist dabei die Einführung einer Vermögensteuer. Wir müssen mehr Tarifverträge als den besten Schutz für gerechte Bezahlung durchsetzen. Ergänzend dazu brauchen wir eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Dabei mache ich mir keine Illusionen. Wir werden auf harten Widerstand stoßen. Denn der Neoliberalismus ist bislang leider noch nicht an Corona erkrankt.

    Frank Werneke, 53, ist in Schloss Holte-Stukenbrock bei Bielefeld geboren. Seit 2019 ist er als Nachfolger von Frank Bsirske Chef der Dienstleistungs-Gewerkschaft Verdi. Das SPD-Mitglied Werneke war von 2002 an stellvertretender Vorsitzender der Organisation.

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