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Umwelt: Wie das Allgäu klimaneutral werden will – und zwar schon bis 2030

Für den Klimaschutz wird im Allgäu viel getan. Letztlich müssen aber auch tausende Autofahrer umdenken.
Umwelt

Wie das Allgäu klimaneutral werden will – und zwar schon bis 2030

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    Der nächste Griff des Kletterers muss sitzen, sonst droht der Absturz. Im Zentrum des Deutschen Alpenvereins in Kempten ist seit einigen Tagen trotz der Corona-Krise wieder Betrieb möglich, draußen, mit Abstand. Die Sportler hangeln sich die Wände hoch, gesichert an Seilen, damit bei einem Fehler nichts passiert. Häufig sind die Alpenvereinsmitglieder auch direkt in den Bergen unterwegs. Wer im Verein ist, hat ein besonderes Verhältnis zur Natur. Doch für diese sieht es nicht allzu gut aus, wenn Forscher recht behalten.

    Schmelzende Gletscher lassen auch Alpinisten längst das Herz bluten. „Wir haben uns entschlossen, dass wir einen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten müssen“, sagt deshalb Vorstand Klaus Wüst, 64. Die Alpenvereins-Sektion Allgäu-Kempten will klimaneutral werden.

    Klimaneutral, das bedeutet nichts anderes, als dass unter dem Strich kein CO2 mehr ausgestoßen wird. Eine große Aufgabe, die Deutschland umtreibt und die Jugendbewegung „Fridays for Future“ hervorgebracht hat. Wüst ist ein sportlich-drahtiger Mann, seit 1998 im Alpenverein, seit 2012 Vorstand, begeisterter Wanderer und Mountainbiker.

    Der Klimaschutz verbindet die Generationen. Unter dem Strich muss also eine Null stehen. Wo aber anfangen? Wo aufhören?

    Der Alpenverein Allgäu-Kempten setzt auf Biogas und Ökostrom

    Das Naheliegendste, sagt Wüst, war, das Vereinszentrum unter die Lupe zu nehmen. Innen setzen sich die Kletteranlagen fort, dazu kommen Vereinsräume und der Gastrobereich „s’Biwak“. Das Alpinzentrum ist der Dreh- und Angelpunkt des Vereinslebens, Baujahr 2017, alles andere als alt. Trotzdem kommt der Verein auf 80 Tonnen CO2-Ausstoß im Jahr, das Vereinszentrum hatte daran seinen Anteil.

    Geschäftsführer ist hier Michael Turobin-Ort, 37. Schnell war klar, dass für den Klimaschutz an vielen Stellschrauben gedreht werden muss. „Wir schaffen energiesparende Geräte an und haben auf sparsames LED-Licht umgestellt“, sagt Turobin-Ort. „Eine große Einsparung brachte die Umstellung auf Biogas und Ökostrom.“

    Zum Verein gehören auch Berghütten – die Kemptener Hütte, die Rappenseehütte und die Tannheimer Hütte, die als Ersatz für die alte Hütte neu und nachhaltig gebaut wird. Hier sind klimafreundliche Insellösungen bei der Stromversorgung möglich, beispielsweise mit Wasserkraftwerken und Solarenergie.

    Demnächst will der Verein außerdem auf den Speisekarten neben dem Preis auch die CO2-Emissionen pro Gericht ausweisen. „Nicht, um ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, sondern um Bewusstsein zu schaffen“, sagt Wüst. Zehn Prozent des CO2-Ausstoßes will der Verein jedes Jahr einsparen. „Wir haben rund 22 Mitarbeiter und 22.000 Mitglieder – für den Klimaschutz ist das ein großer Hebel“, ist er überzeugt – und der Alpenverein ist in seinen Bemühungen nicht allein.

    Insgesamt haben sich seit letztem Jahr rund 70 Vereine, Kommunen und Unternehmen zusammengeschlossen – sie bilden das „Bündnis klimaneutrales Allgäu“. Wer teilnimmt, verpflichtet sich, spätestens 2030 klimaneutral zu sein.

    Michael Turobin-Ort (links) und Klaus Wüst setzen sich im Alpenverein für Klimaneutralität ein.
    Michael Turobin-Ort (links) und Klaus Wüst setzen sich im Alpenverein für Klimaneutralität ein. Foto: Michael Kerler

    Seit dem Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist Klimaschutz stark präsent. Die Bundesregierung, kritisierte das Gericht, mache es sich zu einfach, wenn sie große Einsparmaßnahmen auf die Zeit nach 2030 verschiebe.

    „Es passiert im Klimaschutz zu wenig, ganz Deutschland ist hintendran“, sagt auch Martin Sambale, Geschäftsführer des Energie- und Umweltzentrums Allgäu, kurz „eza!“, das das Allgäuer Bündnis koordiniert. „Es ist mehr Engagement nötig, um die Klimaziele von Paris zu erreichen. Deshalb sind wir mit einem Bündnis der Willigen vor einem Jahr gestartet.“ Nachdem die Regierung nun ihr Klimagesetz eilig nachschärfte, soll Deutschland bis 2045 klimaneutral sein. Die Teilnehmer im Bündnis wollen das schneller erreichen.

    Freilich, Ziele sind leicht gesetzt. Wie aber gelingt es in der Praxis, Treibhausgase einzusparen?

    Als ersten Schritt erstellen die Teilnehmer eine CO2-Bilanz, um zu ermitteln, wie groß ihr Treibhausgasausstoß aktuell ist. In einem zweiten Schritt erfolgt eine Beratung, wie sie ihren CO2-Ausstoß vor Ort senken können. „Ziel ist ein Pfad, wie man schrittweise in zehn Jahren die Klimabilanz verbessern kann“, sagt eza!-Mitarbeiter Sebastian Hartmann.

    Das Problem: „Ganz auf null CO2 kommt man meist nicht herunter oder es wird sehr teuer.“ In einem dritten Schritt wird deshalb der restliche CO2-Ausstoß kompensiert. Das heißt, es werden Projekte in anderen Ländern der Welt finanziert, die dort CO2 einsparen. Das kann eine Solaranlage in Indien sein oder holzsparende Kochöfen in Tansania. Damit sicher ist, dass es die Projekte gibt und CO2 eingespart wird, müssen diese zertifiziert sein. Pate für das Bündnis steht Entwicklungsminister Gerd Müller, CSU. Zwischen acht und 13 Euro zahlen die Bündnispartner derzeit pro Tonne CO2, die sie nicht selbst einsparen können. Vier Euro davon gehen an Klimaschutzprojekte im Allgäu.

    Wenn es aber schon nicht leicht ist, ein Kletterzentrum klimaneutral zu betreiben, wie sieht dies erst bei einem Industriebetrieb aus? Machen wir uns dafür auf eine Reise durch das Allgäu auf.

    2000 Tonnen CO2 weniger: Der Autozulieferer Swoboda baut eine neue Energiezentrale

    Einen Eindruck, wie Klimaschutz in der Industrie funktioniert, bekommt man bei Swoboda, einem weltweit tätigen Automobilzulieferer mit rund 4000 Mitarbeitern, allein 1000 davon am Stammsitz in Wiggensbach. Wer die Türen zu den Produktionshallen öffnet, dem schallt ein Klicken, Klacken und Zischen entgegen. Rund 350 Roboter arbeiten hier. Swoboda stellt Sensoren und Bauteile für Steuerelemente her, die in modernen Autos am Fahrwerk oder an der Lenkung gebraucht werden. Das Werk produziert 24 Stunden am Tag, das gesamte Jahr über.

    „Nachhaltigkeit passt gut zu einem Familienunternehmen wie dem unseren“, sagt Geschäftsführer Sebastian Herler. „Unser Standort liegt in einem der schönsten Flecken des Landes, diesen gilt es zu schützen.“ Zudem erwartet das Unternehmen einen Nutzen durch den Klimaschutz: Große Autohersteller wie Daimler und ihre Haupt-Zulieferer haben das Ziel, bis 2039 klimaneutral zu arbeiten.

    Der Druck steigt. Immer mehr Firmen werden angesprochen, wie ihre Energiebilanz aussieht. Rund 80 Prozent der Aufträge für Swoboda, berichtet Herler, kommen heute bereits aus der E-Mobilität. Das Bild wird aber erst dann komplett, wenn auch die Produktion klimafreundlich erfolgt. „Wir wollen Wegbereiter sein, das gilt nicht nur für die Produkte, sondern auch für den Klimaschutz“, sagt er.

    Bis 2030 sollen die Swoboda-Standorte Wiggensbach und Fürth klimaneutral wirtschaften – früher als die Branche. Jedes Jahr sollen zehn Prozent CO2 eingespart werden. „Der Fokus liegt auf CO2-Vermeidung, nur der Rest am Ende wird kompensiert“, erklärt Dominik Rietzler, 38, der als Abteilungsleiter Technik auch für das Energiemanagement zuständig ist. Neue Elektromotoren in der Produktion brauchen weniger Strom, jedes geschlossene Druckluft-Leck spart Energie.

    Dominik Rietzler stellt bei dem Autozulieferer Swoboda die Weichen, sodass große Mengen Energie eingespart werden.
    Dominik Rietzler stellt bei dem Autozulieferer Swoboda die Weichen, sodass große Mengen Energie eingespart werden. Foto: Ralf Lienert

    Der größte Schritt steht bald an: Swoboda plant den Bau einer Energiezentrale, also eines Kraftwerks, das den Standort mit Strom, Wärme und Kälte zur Kühlung der Hydraulik versorgt. Es soll mit Gas oder Biogas betrieben werden. Bisher gibt es viele kleine Anlagen, was ineffizient ist. Baustart soll 2022 sein. „Wir können damit bis zu 2000 Tonnen CO2 im Jahr sparen“, sagt Rietzler. Ein Fünftel der Emissionen des Werks. „Das wäre ein gewaltiger Schritt.“

    Thomas Kiechle, Oberbürgermeister von Kempten: "In den Köpfen Bewusstsein für das Klima schaffen"

    Kann es am Ende so gelingen, ein ganzes Land umzustellen? Dazu ein Blick in eine Kommune, die sich dafür auf ihrem Gebiet bereits stark bemüht. Die Stadt Kempten hat rund 70.000 Einwohner, ist Teil des Programms „100 Prozent Klimaschutz bis 2050“, fördert die E-Mobilität, das Radfahren, die Altbausanierung und vieles mehr.

    Die Stadt wird die Klimaziele sicher noch ambitionierter fassen, die Stadtverwaltung selbst ist bereits seit 2020 klimaneutral, weil Emissionen der Verwaltung und der Liegenschaften kompensiert werden. „Klimaschutz ist heute eine politische Pflichtaufgabe“, ist Oberbürgermeister Thomas Kiechle, CSU, überzeugt. „Es liegt aber auch eine Herkulesaufgabe vor uns.“

    Denn nicht nur Unternehmen oder Vereine müssen aktiv sein, auch tausende Autofahrer und Pendler müssen letztlich ihre Mobilität umstellen, Hausbesitzer ihre Heizungen modernisieren. Der Klimaschutz ist eine gesellschaftliche Aufgabe, er wird nur gelingen, wenn alle Bürger an einem Strang ziehen. „Mit das Wichtigste ist es deshalb, Bewusstsein für das Klima zu schaffen“, sagt Kiechle.

    In den Bildungseinrichtungen der Stadt – vom Kindergarten bis zum Gymnasium – spielt Klimaschutz deshalb eine besondere Rolle. „Letztlich können Kommunen den Weg nicht alleine gehen, es kommt auch auf das Land und den Bund an“, betont Kiechle. Über den Preis für Diesel wird schließlich auf anderen Ebenen entschieden. „Letztlich brauchen wir eine globale Verantwortung, wenn wir das Klima ernsthaft schützen wollen“, sagt der Oberbürgermeister.

    Bio-Pionier Primavera stellt Ladesäulen auf und bietet Job-Räder

    Eine letzte Station: Der Weg zu Primavera in Oy-Mittelberg, einem Hersteller von Aromatherapie und Bio-Naturkosmetik, führt durch einen blühenden Garten, der von der Natur inspiriert ist und das Ying-und-Yang-Motiv aufgreift.

    Das Gebäude betritt man durch eine „Entschleunigungstür“, innen duftet es nach Zitrusfrüchten. Die Gründer Ute Leube und Kurt Ludwig Nübling haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihre Produkte in verantwortungsvollem Umgang mit der Natur herzustellen. „Ätherische Öle haben uns begeistert, im Bio-Bereich gab es dazu anfangs leider nichts“, erinnert sich Nübling. Er begann, mit Herstellern zu reden und sie zu überzeugen, in Bio-Qualität zu produzieren. Die Rohstoffe stammen aus Ländern wie Bhutan oder Kambodscha. Chemische Pflanzenschutzmittel spielen bei den Partnern von Primavera keine Rolle mehr, gedüngt wird häufig mit Kompost.

    „Es macht einen Unterschied, Bio-Anbau in seiner vollen Diversität von Pflanzen und Tieren zu erleben oder ein Feld, auf dem nichts mehr zirpt“, ist Nübling überzeugt. Die beiden Primavera-Gründer stammen noch aus der Spät-68er-Bewegung, damals war Waldsterben ein Thema.

    Setzt auf Solarenergie am Firmengebäude und fährt am liebsten elektrisch: Kurt Ludwig Nübling, zusammen mit Ute Leube Gründer von Primavera.
    Setzt auf Solarenergie am Firmengebäude und fährt am liebsten elektrisch: Kurt Ludwig Nübling, zusammen mit Ute Leube Gründer von Primavera. Foto: Michael Kerler

    Auf dem Gelände des Unternehmens haben die Gründer von Beginn an auf Klimaschutz geachtet: Das Gebäude ist nach Süden ausgerichtet, große Fenster fangen Sonne und Wärme ein. Durch Lüftungssysteme werden 95 Prozent der Wärme zurückgewonnen, Fotovoltaik erzeugt Strom. Der Erdaushub des Gebäudes diente der Gestaltung des Gartens mit sanft geschwungenen Hügeln; über 100.000 Pflanzen binden CO2 und bieten seltenen Tierarten einen Lebensraum.

    „Wir wollen die Menschen inspirieren und nicht mit dem erhobenen Zeigefinger arbeiten“, sagt Nübling. Kann man noch mehr für den Schutz der Umwelt tun? Ja, man kann.

    Erstens sind da die Flugreisen, die nötig werden, weil die Rohstoffe des Bio-Pioniers aus entfernten Ländern stammen. Die Emissionen müssen an anderer Stelle ausgeglichen werden. Zweitens sind da die Produkte selbst. „Wir lassen gerade die CO2-Emissionen unserer Produkte berechnen – von der Rohstoff-Herstellung über die Lieferkette bis zur Aussendung ab unserem Logistikgebäude“, sagt Nübling. Für jede Handcreme, jeden Raumduft wird dann transparent, mit wie viel CO2 sie verbunden sind.

    Partner für den Zitronengras-Anbau in Bhutan: Primavera setzt für die Aromatherapie auf Bio-Qualität.
    Partner für den Zitronengras-Anbau in Bhutan: Primavera setzt für die Aromatherapie auf Bio-Qualität. Foto: Primavera

    Schließlich ist da die Mobilität der rund 250 Mitarbeiter, die zur Arbeit und auf Geschäftstermine fahren. Klar ist, dass ein Benziner oder Diesel das Klima belastet. Primavera hat deshalb für die Beschäftigten einen Radparkplatz für E-Bikes gebaut, fördert den Kauf von Job-Rädern, hat sich für eine Bushaltestelle stark gemacht, stellt Ladesäulen auf. „Ich fahre inzwischen selbst am liebsten elektrisch“, sagt Nübling.

    Die Mobilität wird der Knackpunkt für den Klimaschutz sein, davon geht auch Klaus Wüst vom Alpenverein in Kempten aus. 22.000 Mitglieder machen sich regelmäßig auf den Weg zum Wandern, Skifahren, Klettern, dazu kommen tausende Gäste auf den Berg-Hütten. Der Verein will nun einen Car-Sharing-Anbieter an Land ziehen, damit Trainer umweltschonend im Elektroauto in die Berge kommen. Die Gäste auf den Hütten könnte ein besser ausgebauter öffentlicher Nahverkehr zum Umsteigen auf Bus und Bahn motivieren.

    Es sind tausende solcher kleinen Maßnahmen, die es möglich machen, dass Klimaschutz gelingt, das zeigt die Reise.

    Sicher ist, dass die Griffe sitzen müssen, damit es nicht zum Absturz kommt, davon sind die Bündnispartner überzeugt. Eine Seilsicherung kennt das Klima nicht.

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