Frau Andreae, das Jahr 2020 hat einen Rekord an erneuerbaren Energien über 50 Prozent gebracht, gleichzeitig gab es trübe windstille Wintertage, an denen der Anteil nicht über 20 Prozent hinauskam. Ist so ein Gelingen der Energiewende möglich?
Kerstin Andreae: Wenn wir den Ausbau der erneuerbaren Energien konsequent vorantreiben und alle Potenziale nutzen, dann können diese einen immer größeren Anteil an der Energieversorgung übernehmen. Dafür müssen wir Dächer und Freiflächen für Photovoltaik nutzen und die Windkraft an Land ausbauen. Es verläuft aktuell viel zu langsam. Wir brauchen einen forcierten Ausbau der Erneuerbaren, wir brauchen ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zu stärkeren Ausbauzielen. Ziele ohne entsprechende Flächen, auf denen Projekte realisiert wer-den können, nützen aber nichts. Dies gilt insbesondere bei Wind an Land, dem Packesel der Energiewende. Hier muss mehr passieren. Klar ist auch: Wir werden neue, hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen brauchen, also Kraftwerke, die zugleich Strom und Wärme produzieren können. Auch hier geht es aktuell noch zu langsam voran.
Weshalb stockt der Ausbau?
Andreae: Es fehlt an ausgewiesenen Flächen für die erneuerbaren Energien, die Bürokratie ist ebenfalls ein Hemmschuh. Wir müssen die Genehmigungen vereinfachen, zum Beispiel für das Repowering von Windkraftanlagen. Das bedeutet, dass man am Standort eines alten Windrades eine bessere Anlage installiert, die mehr Strom generieren kann. Der Standort ist ja bereits vorhanden. Nun muss aber der gesamte Genehmigungsprozess von vorne durchlaufen werden, wenn eine alte Anlage durch eine neue ersetzt wird. Das macht keinen Sinn und verzögert nur oder führt gar dazu, dass die alte Anlage nicht durch eine bessere ersetzt wird.
Autos sollen elektrisch fahren, gleichzeitig schaltet Deutschland Kohle und Atomkraft ab. Könnte da nicht der Strom knapp werden?
Andreae: Der Strombedarf wird signifikant höher sein als die 585 Terawattstunden, von denen die Bundesregierung für das Jahr 2030 derzeit ausgeht. Schaut man sich den Energiebedarf Deutschlands an, entfallen 20 Prozent auf die Stromerzeugung, 80 Prozent sind andere Bereiche wie Industrie und Verkehr. Durch die Sektorkopplung wird der Strombedarf stark steigen. Hinter diesem etwas sperrigen Wort steckt der Gedanke, dass im Sinne des Klimaschutzes Stromerzeugung, Verkehr und der Wärmesektor verbunden werden, dass also Fahrzeuge mit Strom statt mit Diesel und Benzin fahren oder dass Häuser beispielsweise auch mit elektrischen Wärmepumpen statt mit Öl geheizt werden können. Das alles hat nur Sinn, wenn wir dafür erneuerbaren Strom nutzen. An einem konsequenten Ausbau der erneuerbaren Energien kommen wir also nicht vorbei. Machbar ist das, wir brauchen aber die Flächen, die Genehmigungen, die Projekte.
Im Naturschutz gibt es Kritik, dass Windräder zur Gefahr für Tiere werden. Wie gehen Sie damit um?
Andreae: Wir sind in einem intensiven Dialog mit den Naturschutzverbänden, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Artenschutz hat das Ziel, eine Art zu schützen. Arten sind aber auch durch den Klimawandel bedroht. Um gegen diesen anzukämpfen, braucht es erneuerbare Energien.
Verstehen Sie denn Bedenken in der Bevölkerung gegen Windräder und Solarfelder?
Andreae: Wir brauchen eine positive Grundstimmung in der Bevölkerung, die Photovoltaik auf der Fläche und Windkraft an Land positiv annimmt. Es ist ein großartiges Zukunftsprojekt, eine saubere Energieversorgung auf die Beine zu stellen! In den letzten ein, zwei Jahren haben wir zwar Debatten zu Abstandsregeln zwischen Windkraftanlagen und Häusern geführt, aber keine zu Wertschöpfung und Jobs durch erneuerbare Energien.
Wie stellen wir sicher, dass Strom künftig auch bereitsteht, wenn es Nacht ist und der Wind nicht weht?
Andreae: Voraussetzung für den effizienten Einsatz erneuerbaren Stroms ist der Netzausbau, aber auch die Entwicklung der Speichertechnologien. Der Strom, der nicht direkt genutzt werden kann, muss gespeichert werden können und abrufbar sein für spätere Nutzung. Hier müssen wir technologieoffen vorgehen. Wir werden viele Speicher brauchen. Große Chancen liegen in der Batterietechnik, selbst Elektroauto-Batterien können als mobile Stromspeicher verwendet werden, große Hoffnungen liegen auch auf Wasserstoff. Statt ein Windrad in Norddeutschland abzuschalten, wenn es überschüssigen Strom produziert, könnte damit Wasserstoff hergestellt werden, den man später zur Elektrizitätserzeugung in einer Brennstoffzelle nutzen kann. Wir sind noch lange nicht am Ende der technologischen Entwicklung. Dafür brauchen wir die Unterstützung der Politik und einen Rechtsrahmen. Eine Gefahr ist zum Beispiel die Doppelbelastung des gespeicherten Stroms: Derzeit wird der Strom teurer, wenn er – einmal bei der Einspeisung in den Speicher und ein zweites Mal bei der späteren Nutzung – mit Gebühren belegt wird. Das ist doch Unsinn!
Denken Sie, 100 Prozent erneuerbare Energien wären möglich?
Andreae: Für die Stromversorgung: Ja! Die Stromwende ist eingeleitet, dort geht es hin in Richtung 100 Prozent erneuerbarer Energie. Im Bereich der Industrie und der Wärmeversorgung werden wir weiterhin Gas benötigen. Erdgastechnologien sind eine Brücke zur Dekarbonisierung, nötig für Klimaneutralität ist aber der Ersatz des Erdgases durch klimaneutrale Gase. Dazu brauchen wir vor allem grünen erneuerbar erzeugten Wasserstoff.
Woher kann diese Menge an grünem Wasserstoff kommen?
Andreae: Deutschland wird ein Energieimporteur bleiben, wie derzeit bei Öl und Erdgas. Wir werden in Zukunft zwingend auf europäische und globale Wasserstoffimporte angewiesen sein. Kürzlich hatten wir im Verband eine internationale Konferenz zu diesem Thema mit Vertretern aus 23 Ländern, alle davon haben Wasserstoffstrategien aufgesetzt, darunter Staaten wie Chile und Australien. Länder mit Meeresküsten und windreichen Regionen eignen sich gut für die Wasserstoffproduktion.
Welche Rolle spielt Deutschland in der Wasserstofferzeugung?
Andreae: Deutschland wird seinen Wasserstoffbedarf nicht nur heimisch decken können. Dies darf uns aber nicht davon abhalten, den Ausbau der Erneuerbaren voranzutreiben. Für grünen Wasserstoff brauchen wir aber die erneuerbaren Energien, auch in Deutschland. Um es so zu sagen: Am Anfang von grünem Wasserstoff steht immer ein Windrad.
Wasserstoff ist also kein Hype?
Andreae: Das Potenzial von Wasserstoff ist groß, das ist eine unglaubliche Chance. Mutlosigkeit wäre hier ein Fehler. Wir müssen ambitioniert an das Thema rangehen. Die Bundesregierung und die EU nehmen hier bereits viel Geld in die Hand. In der Nutzung von Wasserstoff steckt unglaublich viel Potenzial! Dies ist nicht nur ein klimapolitisches, sondern auch ein industriepolitisches Thema. Es geht um Elektrolyseure, den Aufbau zukunftsfähiger Industrien. Mit Wasserstofftechnologie schaffen und sichern wir Jobs! Wir müssen aufpassen, dass uns andere Länder bei Wasserstofftechnologien nicht überholen.
Haben wir die Infrastruktur, um Wasserstoff in der Praxis zu nutzen?
Andreae: Das haben wir, wenn wir unsere Gasinfrastruktur für klimaneutrale Gase fit halten. Unter der Erde liegen in Deutschland 550.000 Kilometer Gasnetz. Jede zweite Wohnung wird mit Gas beheizt. . Die Industrie, vor allem die Grundstoffindustrie braucht klimaneutrale Gase wie Wasserstoff für ihre Produktion, auch im Schwerlastverkehr kann Wasserstoff als Antriebsenergie eingesetzt werden. Aber perspektivisch muss Wasserstoff auch in der Wärmeversorgung eine Rolle spielen! Hier würden wir uns von der Bundesregierung ein klareres Signal wünschen! Um zügig in die Wasserstoffwirtschaft einzusteigen, brauchen wir einen einheitlichen rechtlichen Rahmen für das Gas- und Wasserstoffnetz.
Stichwort Wärmeversorgung: In Bayern heizen noch die meisten Haushalte mit Öl und Gas. Zehntausende Einfamilienhäuser für den Klimaschutz auf erneuerbare Energien umzustellen, scheint noch komplizierter als die Energiewende bei der Stromerzeugung...
Andreae: Die Politik unterschätzt die Wärmeversorgung der Zukunft, das liegt vielleicht da-ran, dass der Bereich in mehreren Ministerien angesiedelt ist – Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- Bauministerium, jeder hat ein bisschen damit zu tun. Wie aber sieht die Wärmeversorgung 2030, 2040 aus? Hier fehlt eine klare Vorstellung. Hier wünsche ich mit einen wirklich engagierten Prozess aller Beteiligten! Wir als BDEW werden mit konkreten Vorschlägen vorangehen, die die regionalen Besonderheiten, die Bausubstanz in Deutschland, das Ziel der Klimaneutralität und die soziale Ausgewogenheit berücksichtigen..
Verbraucher stöhnen über hohe Strompreise. Sehen Sie einen Ausweg?
Andreae: Strom muss günstiger werden, damit Klimaschutztechnologien wie die Elektromobilität oder Wärmepumpen für Häuser den Durchbruch schaffen können. Der Strompreis besteht heute zu über 50 Prozent aus staatlich vorgegebenen Umlagen, Abgaben und Steuern. Klar ist, dass die Umlagefinanzierung der erneuerbaren Energien an ihre Grenzen stößt. Ich denke nicht, dass wir die EEG-Umlage statt über den Strompreis ganz aus dem Staatshaushalt bezahlen können. Zusätzlich sollten die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung dafür verwendet werden, die wir seit diesem Jahr haben. Pro Tonne CO2 werden 25 Euro fällig, der Betrag wird dann in den Folgejahren steigen. Fossile Energieträger wie Öl teurer zu machen, dafür aber die erneuerbaren Energien zu fördern, das ist ein schlüssiges Konzept.
Brauchen die erneuerbaren Energien noch Fördergeld?
Andreae: Es gibt einzelne große Projekte, die sich inzwischen auch ohne Förderung etablieren. Das ist genau der richtige Weg. Für viele kleine dezentrale Projekte zum Beispiel in der Photovoltaik wird weiterhin eine Anschubfinanzierung nötig sein.
Zur Person: Kerstin Andreae ist Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, kurz BDEW. Sie war von 2002 bis 2019 Mitglied des Bundestages für die Grünen.
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