Wie groß ist der Ökostromanteil wirklich?
Der zurückliegende trockene und sonnige Sommer 2018 hat der deutschen Energiewende einen Schub verliehen. In unserer Region stiegt die Erzeugung von Strom aus der Photovoltaik auf einen neuen Höchststand: Im Bereich der Lechwerke speisten die Anlagen den Rekord von 1660 Millionen Kilowattstunden Strom ein, berichtet das Unternehmen. Damit könnten rechnerisch 470.000 Haushalte ein Jahr lang mit Elektrizität versorgt werden. „Unsere Region ist von der Sonne verwöhnt und bestens für die Stromerzeugung aus Photovoltaikanlagen geeignet“, sagt Josef Wagner, Geschäftsführer der Lechwerke Verteilnetz GmbH. Strom aus Biomasse, Wind- und Wasserkraft kommt noch dazu.
Bundesweit stieg 2018 der Anteil erneuerbarer Energiequellen am Strommix, der aus der Steckdose kommt, auf über 40 Prozent. Das berichtet das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE). Die Zahl hat bundesweit Beachtung gefunden. Da das Fraunhofer-Institut die Eigenstromerzeugung der Industrie nicht berücksichtigt, kommen andere Stellen auf leicht niedrigere Werte. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft schätze den Anteil der Erneuerbaren am Stromverbrauch 2018 auf rund 38 Prozent – aber auch das wäre ein Rekord.
In unserer Region wird teilweise mehr erneuerbarer Strom erzeugt, als verbraucht werden kann, berichtet Lechwerke-Geschäftsführer Wagner. An über 150 Tagen speisten die Lechwerke deshalb überschüssige Elektrizität ins überregionale Übertragungsnetz ein.
Muss nicht ein großer Teil des Stroms importiert werden, wenn Wind und Sonne fehlen?
Kritiker warnen vor allem vor der sogenannten Dunkelflaute: Dies sind sonnenarme, windstille Tage vor allem im Winter, wenn Windkraft und Photovoltaik als Erzeuger praktisch ausfallen. Bisher aber hat Deutschland noch mehr Strom exportiert als importiert, wie Zahlen des Fraunhofer-Instituts zeigen: Im Jahr 2018 hat Deutschland demnach einen Strom-Exportüberschuss von rund 45,6 Terrawattstunden erzielt. Der Großteil der Exporte sei in die Niederlande geflossen, die wiederum einen großen Teil des Stroms nach Belgien und Großbritannien weitergeleitet hätten. Auf Platz zwei folgte Österreich, danach kam die Schweiz. „Deutschland importierte 8,3 Terrawattstunden Strom aus Frankreich, der hauptsächlich an die Nachbarländer weitergeleitet wurde“, schreiben die Forscher.
„Wir haben also große Exportüberschüsse – dabei handelt es sich nicht nur um Strom aus erneuerbaren Energien“, sagte Professor Bruno Burger vom Fraunhofer-Institut im Gespräch mit unserer Redaktion. „Solange man damit Geld verdienen kann, laufen auch Braunkohlekraftwerke mit voller Leistung.“ Der Stromhandel scheint sich bisher für die Deutschen zu rechnen: Nach Angaben des Instituts ergeben sich aus dem Handel 1,81 Milliarden Euro Einnahmen. Die meiste Zeit des Jahres exportierte Deutschland Strom, nur 12 Prozent der Zeit führte das Land Strom ein.
Ist die Energiewende effizient? Schließlich wird manchmal auch Strom verschenkt.
Nicht immer sind Stromerzeugung und -verbrauch perfekt aufeinander abgestimmt. An der Strombörse in Leipzig kommt es dann zu negativen Börsenstrompreisen. Das heißt, die Erzeuger zahlen dem Stromverbraucher auch noch Geld, wenn er ihren Strom abnimmt. Effizient ist das nicht, sagen Kritiker. In Deutschland war dies 2018 für 134 Stunden der Fall, ein Jahr zuvor war es etwas mehr – 146 Stunden.
Fraunhofer-Experte Burger hält dies aber nicht für das größte Problem: „Rund 0,5 Prozent des Handelsvolumens an Strom haben negative Preise, das ist marginal. Über 8000 Stunden im Jahr war der Preis positiv“, betont er.
Relevanter ist vielleicht ein anderes Phänomen: Weht der Wind kräftig, könnten Windkraftwerke mehr Strom erzeugen als gebraucht wird. Um das Netz nicht zu überlasten, werden sie abgeregelt. Die Betreiber erhalten eine Entschädigung. Allein im ersten Quartal 2018 entstanden nach Angaben der Bundesnetzagentur 228 Millionen Euro Kosten. Dass Ökostrom so vergeudet wird, bedauern zum Beispiel die Grünen.
Ist die Energiewende also auf bestem Wege?
Nein, Kritiker sehen noch viele offene Baustellen. Je nach Interessenlage fallen sie unterschiedlich aus. Energie-Experte Burger vom Fraunhofer-Institut fordert einen stärkeren Ausbau der Sonnenenergie: „Die Photovoltaik ist ins Hintertreffen geraten“, sagt er. In Deutschland seien derzeit Photovoltaikanlagen mit 45 Gigawatt Leistung und Windräder mit 60 Gigawatt Leistung installiert. „Für einen ausgewogenen Mix bräuchte man aber ein Verhältnis von 1:1.“ Burger kritisiert, dass die Bundesregierung bei der Photovoltaik auf die Bremse getreten ist.
Stefan Kapferer vom Bundesverband für Energie- und Wasserwirtschaft fordert dagegen mehr Rückenwind für die Offshore-Windkraft. Und Professor Frithjof Staiß vom Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg mahnt bessere politische Rahmenbedingungen an, um zum Beispiel Energiespeicher zu fördern. Wichtig wäre es zudem, Heizen und Verkehr stärker in die Energiewende einzubeziehen. Andere Kritiker sehen Defizite im Netzausbau. Die Verbraucher dürfte etwas anderes umtreiben: Dem Portal Check24 zufolge erhöht jeder zweite der rund 900 Stromgrundversorger im Jahr 2019 die Preise.
Erleben andere Länder nicht eine Rückkehr zur Atomkraft?
Weltweit wurden 2018 nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation neun Atomkraftwerke in Betrieb genommen: sieben in China, zwei in Russland. Drei sind offenbar stillgelegt worden, für fünf Meiler begann der Bau. Nach Ansicht von Raimund Kamm vom Forum gegen das Zwischenlager in Gundremmingen ist dies aber noch keine Rückkehr zur Atomkraft: Durch die neuen Kraftwerke kamen 8,6 Gigawatt Kernkraft-Kapazität hinzu, rechnete er vor. „Da im Jahr 2018 nach ersten Abschätzungen aber erneut 100 Gigawatt Photovoltaik und 50 Gigawatt Windkraft zugebaut worden sind, sank erneut der Atomstromanteil an der weltweiten Stromerzeugung“, meint er.
Was den deutschen Atomausstieg betrifft, warnte Kamm vor einer neuen „Kampagne“, die Laufzeiten zu verlängern. Er befürchtet Argumente, dass die Energiewende und die neuen Leitungen von Nord nach Süd noch nicht so weit seien, sodass man die Atomkraftwerke in Gundremmingen, Neckarwestheim und Ohu fünf Jahre länger laufen lassen sollte. Bisher ist geplant, dass Gundremmingen bis Ende 2021 vom Netz geht.