Die Kritik an der Corona-Informationspolitik der Staatsregierung seitens der schwäbischen Industrie- und Handelskammer war deutlich. IHK-Hauptgeschäftsführer Marc Lucassen bemängelte das schleppende Impftempo: „Die Politik hat auf Kosten der Wirtschaft wertvolle Zeit verloren und die Wirtschaft muss den Schaden nun ausbaden.“ Unsere Redaktion hat IHK-Mann Lucassen und Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) zum Streitgespräch gebeten.
Herr Lucassen, die Politik hat die von Ihnen eingeforderten Öffnungsperspektiven zumindest für den Handel und die Außengastronomie beschlossen. Da müssten Sie doch Abbitte leisten.
Marc Lucassen: Der Stufenplan ist ein Fortschritt. Doch die einseitige Fixierung auf den Inzidenzwert und die vielen ungeklärten Fragen zur praktischen Umsetzung stellen uns nicht zufrieden. Auch gibt es für einige Branchen keine Perspektive, etwa die Tourismuswirtschaft und auch die Innengastronomie. Ähnliches gilt für die Veranstaltungs- und Messewirtschaft. Hier stellt sich natürlich die Gerechtigkeitsfrage.
IHK-Chef Lucassen kritisiert Corona-Politik
Was ist ungerecht?
Lucassen: Es ist schwer, Vertretern aus der Tourismuswirtschaft zu erklären, warum es für ihre Betriebe keine Szenarien gibt, wann sie wieder öffnen dürfen, Betreiber von Einzelhandelsgeschäften aber wissen, woran sie sind. In den vergangenen zwei Monaten ist seitens der Politik einiges schiefgelaufen. Es wurde versäumt, offen gegenüber den Unternehmern darüber zu sprechen, wie es weitergehen könnte. Ich kritisiere also die mangelnde Kommunikation auch von Teilen der Bayerischen Staatsregierung in den letzten Wochen, auch wenn sich das gerade verbessert.
Herr Holetschek, ist wirklich einiges schiefgelaufen?
Klaus Holetschek: Beim Wort „schiefgelaufen“ möchte ich dazwischengrätschen. Ich bin vielmehr der Meinung: Es ist unter erschwerten Bedingungen vieles gut gelaufen, auch wenn die Situation für die Menschen und die Wirtschaft natürlich schwierig war und ist. Aber ich stelle mir bei solchen Diskussionen immer die Frage: Was ist unser Ziel?
Was ist denn Ihr Ziel?
Holetschek: Das Ziel der politisch Verantwortlichen ist es, zu verhindern, dass unser Gesundheitssystem überlastet wird. Das ist uns im Kern gelungen. Im internationalen Vergleich haben wir uns gar nicht so schlecht geschlagen. Deshalb stelle ich mir in der Corona-Diskussion immer wieder die Frage: Ist das Glas nun halb leer oder halb voll?
Lucassen: "Die Lage für die Wirtschaft ist sehr ernst"
Wie steht es nun um das Glas?
Holetschek: Es ist halb voll.
Herr Lucassen, bleiben Sie bei Ihrer Kritik, wo das Glas doch halb voll ist?
Lucassen: Selbstverständlich bleibe ich bei meiner Kritik, denn so nimmt die Wirtschaft die Situation wahr, auch wenn Herr Holetschek das anders sieht. Die Lage für die Wirtschaft ist ernst.
Wie ernst?
Lucassen: Im vergangenen Jahr wurden in unserem Kammerbezirk zehn Prozent weniger Ausbildungsverträge als 2019 abgeschlossen. In anderen bayerischen Regionen ist die Lage mit Rückgängen von 15 bis 20 Prozent noch schlimmer. Das ist ein massiver Kollateralschaden der Corona-Krise. Und im Wahljahr besteht die Gefahr, dass auch Unternehmer den Glauben in die Leistungsfähigkeit des Staates verlieren.
Holetschek: Hier muss ich widersprechen. Ich habe nicht das Gefühl, dass Unternehmer das Vertrauen in die Politik verloren haben. Sie erkennen an, dass diese Pandemie uns vor eine in der Nachkriegsgeschichte so nie dagewesene Herausforderung stellt. Für Corona gibt es kein Drehbuch. Wir haben aber aus der ersten Welle gelernt.
Doch was ist aus Sicht der Wirtschaft seitens der Politik schiefgelaufen?
Lucassen: Die Politik hat ein falsches Erwartungsmanagement betrieben.
Gesundheitsminister Klaus Holetschek sieht das Glas halb voll
Was heißt das konkret?
Lucassen: Wenn man Hilfen für Unternehmen als Novemberhilfen verkauft und damit den Eindruck erweckt, die Hilfen würden auch im November ausbezahlt, dies aber erst im Februar der Fall ist, darf man sich nicht wundern, wenn bei den Betroffenen der Eindruck entsteht, dass die Politik nicht liefert. Das gleiche ist mit den Dezemberhilfen passiert. Hier sind also Erwartungen falsch gemanagt worden. Das Problem zieht sich wie ein roter Faden durch das Handeln der Politik.
Wo sehen Sie noch rot?
Lucassen: Bei allen Wirtschaftshilfen, also nicht nur bei der November- und der Dezemberhilfe, hat sich die Auszahlung der Gelder um zwei bis drei Monate entgegen den geschürten Erwartungen verzögert. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Impfen: Auch hier sind wir zwei bis drei Monate später dran als ursprünglich von der Politik angepeilt. Und auch was das Testen und die Möglichkeiten zur digitalen Rückverfolgung von Infektionen angeht, verhält es sich ähnlich. Was aber Unternehmer am meisten enttäuscht hat: Die Staatsregierung hat im Januar und Februar auf unser Drängen, über mögliche Öffnungen für Geschäfte zu sprechen, nicht reagiert. Es fehlte die öffentliche Kommunikation über Perspektiven, auch wenn wir als Wirtschaftsvertreter natürlich mit Ministerpräsident Söder und Herrn Holetschek im Gespräch waren.
Holetschek: Dialog ist mir wichtig. Und ich spreche auch als Gesundheitsminister häufig mit Wirtschaftsvertretern. Und so bleibe ich dabei: Aus der Perspektive des Gesundheitspolitikers ist vieles gut gelaufen. Das Glas ist also halb voll, andernfalls hätten wir in unseren Krankenhäusern bei höheren Fallzahlen über die Frage gesprochen, welcher Patient ein Beatmungsgerät bekommt und wer nicht. Und es ist eine unglaubliche Leistung, dass wir nach einem Jahr schon Impfstoffe zur Verfügung haben, auch wenn die EU leider nicht genügend Impfstoff bestellt hat.
Holetschek: "Pandemie lässt Planbarkeit nicht zu"
Warum hat die Staatsregierung nicht schon im Februar Signale an Unternehmer gesandt, wann sie ihre Läden wieder aufsperren können?
Holetschek: Wenn ich eines in der Pandemiezeit gelernt habe: Es ist schwer, über konkrete Öffnungsszenarien zu sprechen, also Betriebsinhabern zu sagen, wann genau Geschäfte wieder aufmachen können. In vielen Ländern haben die politisch Verantwortlichen wider besseres Wissen Geschäfte und Restaurants aufgemacht, um sie schon bald wieder schließen zu müssen. Viele Experten wie der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, haben uns vor einem Drehtüreffekt des immer wiederkehrenden Auf- und Zumachens gewarnt.
Doch viele Unternehmer beklagen eben die mangelnde Planbarkeit.
Holetschek: Leider lässt diese Pandemie eben Planbarkeit und Verlässlichkeit kaum zu, wie sich deutlich an der britischen Corona-Mutation zeigt. Die Virusvariante wurde in Bayern schon bei rund 50 Prozent der neu Infizierten festgestellt. Ohne diese besonders ansteckende Mutation sähe die Lage bei uns viel besser aus. Da wären wir vielleicht schon durch. Intensivmediziner haben mir jetzt zwar bestätigt, dass wieder mehr Betten für Corona-Patienten in Bayern zur Verfügung stehen. Zunehmend müssen aber jüngere Menschen wegen Corona in die Krankenhäuser. Und durch die Mutation sind Menschen länger krank. Deshalb müssen wir vorsichtig und umsichtig bleiben. Ich sehne mich wie Herr Lucassen nach Normalität. Wir sind da nicht so weit auseinander: Am Ende müssen wir die Gesundheit der Menschen schützen und dafür sorgen, dass es der Wirtschaft wieder besser geht.
Lucassen: Es darf keinen Gegensatz geben zwischen Gesundheitsschutz und den Interessen der Wirtschaft. Als gelernter Biochemiker weiß ich um die enorme Leistung, dass so schnell Impfstoffe entwickelt wurden. Doch nun kommt ein „Aber“.
Und zwar welches „Aber“?
Lucassen: Deutschland hinkt zwei bis drei Monate hinter anderen Ländern hinterher, in denen mehr und früher geimpft wurde. Das ist mein „Aber“. Dieses Hinterherhinken lässt uns, auch wegen der Mutation, möglicherweise in eine dritte Welle laufen. Dabei erkenne ich an, dass die politisch Verantwortlichen guten Willen zeigen, doch sie liefern zu spät. Das mag auch daran liegen, dass sich Politiker absichern müssen und das Thema in die Mühlen des Wahlkampfjahres geraten ist. Fehler werden in der Krise gemacht, doch meine Kritik lautet: Man hat in der Corona-Krise nicht schnell genug aus diesen Fehlern gelernt.
Zu wenig Impfstoff, Wirtschaft leidet - "Das ist eine Katastrophe"
Holetschek: Wiederum ein Einspruch: Was das Impfprogramm betrifft, war die Rollenverteilung von Anfang an klar: Die EU und der Bund besorgen den Impfstoff und wir als Bundesländer übernehmen die Logistik. Doch die EU hat zu wenig Impfstoff bestellt. Die EU versuchte Geld bei der Impfstoffbeschaffung einzusparen und wir in Deutschland müssen auch deswegen die Wirtschaft mit weiteren hunderten von Milliarden Euro am Leben erhalten. Das ist eine Katastrophe.
Was hätte Brüssel machen müssen?
Holetschek: Brüssel hätte lieber einmal ein paar hundert Millionen Euro mehr für Impfstoff ausgegeben und wäre damit ins Risiko gegangen. Dann stünden wir heute besser da. Doch wir können in Bayern pro Tag immerhin 43.000 Menschen ein Impfangebot machen und haben bisher mehr als 1,4 Millionen Impfungen verabreicht. Das ist noch nicht befriedigend. Wir müssen Lehren daraus ziehen.
Welche Lehren sind das?
Holetschek: Wir müssen die Lieferketten verändern, also wieder mehr Impfstoff in Deutschland produzieren. Die Gesundheits- und hier vor allem die Pharmawirtschaft können eine Leitwirtschaft für die Zukunft werden. Und wir müssen auch als Lehre aus der Corona-Krise Bürokratie abbauen.
Das haben viele vergeblich versucht.
Holetschek: Doch nun haben wir wirklich die große Chance für unbürokratischere Regelungen. Wir können gleich damit anfangen: Wenn Hausärzte mitimpfen sollen, was ich befürworte, müssen wir sie von lästiger Bürokratie, also aufwendigen Dokumentationspflichten, entbinden. Wir wollen, dass die Hausärzte im April mit dem Impfen beginnen können. Und sobald genügend Impfstoff da ist, müssen die Betriebsärzte ran.
Unsicherheit bei Impfstoffbeschaffung schafft Vertrauensverlust
Dazu ist mehr Impfstoff notwendig.
Holetschek: Impfstoff ist nach wie vor knapp. Der Impfstoff von Johnson & Johnson wurde ja jetzt in der EU zugelassen. Doch nach wie vor wissen wir nicht, wie viel Impfstoff wir bekommen. Verlässlichkeit ist also schwer. Da muss man leider Menschen mit einem Impftermin nach Hause schicken. In diesem Punkt gebe ich Herrn Lucassen recht: So etwas schafft einen Vertrauensverlust. Wir hängen aber von Faktoren ab, die wir nicht selbst in der Hand haben. Auf alle Fälle ist Impfen das Licht am Ende des Tunnels. Und wenn der russische Impfstoff Sputnik in Europa zugelassen wird, dann impfen wir Sputnik. Warum nicht auch Sputnik für Bayern? Je mehr Menschen geimpft werden, umso besser ist das.
Also kommen erst die Hausärzte und dann die Betriebsärzte dran.
Holetschek: So planen wir das.
Lucassen: Beim Thema Impfen steht die Wirtschaft mit ihren Betriebsärzten bereit. Auch in den Bereichen Testen und digitale Nachverfolgung haben wir Kompetenz und können die Politik unterstützen. Unser Angebot steht.
Nun hat in der Corona-Krise das Vertrauen vieler Bürger in den Staat gelitten. Doch zuletzt wurde von zwei Unions-Politikern Vertrauen regelrecht zerstört. Beide sollen fette Provisionen durch die Vermittlung von Corona-Schutzmasken kassiert haben.
Holetschek: Ich ärgere mich über das unentschuldbare Verhalten der beiden Politiker. Ein solches Verhalten zerstört Vertrauen von Menschen in die Politik. Die Vorgänge müssen rückhaltlos aufgeklärt werden.
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