Herr Kaeser, Sie sind auf Twitter aktiv. Twittern sie selbst?
Kaeser: Die Tweets, auf die die meisten Leute reagieren, mache ich meistens selbst. Das liegt nicht daran, dass ich das besonders gut kann, sondern, dass die Dinge manchmal so kommen… Aber wir haben im Unternehmen natürlich Kolleginnen und Kollegen, die sich darum kümmern. Ich muss zunächst ein Unternehmen an der Spitze vertreten, mit 380.000 Kollegen. Ich werde dafür bezahlt, das Beste fürs Unternehmen zu tun. Daher sollte man sich sorgfältig überlegen, wofür man die Zeit sonst noch so verwendet.
Mit einem Tweet haben Sie für besonders viel Aufmerksamkeit gesorgt: „Lieber ,Kopftuchmädel’ als ,Bund Deutscher Mädel’“. Weidel hatte vorher gesagt: „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern.“
Kaeser: Ich war in Frankfurt in der Flughafen-Lounge. Im Fernsehen sah ich diese schrille Person mit einem Gesichtsausdruck und einer Formulierung, die mich echt hat schaudern lassen. Wenn die Welt diese Bilder sieht! Das ist nicht gut für unser Land. Ich nahm mein Handy raus und dachte, wenn schon, dann muss man das auf den Punkt bringen. Wenn man das politisch korrekt formuliert, dann liest das ja kein Mensch.
Der Tweet hat auch aus dem Grund so viele Reaktionen erhalten, weil es ungewöhnlich ist, dass sich ein Mann aus der Wirtschaft so klar positioniert.
Kaeser: Die Kolleginnen und Kollegen unserer Presseabteilung waren total fertig. (lacht) Aber es gab auch eine ungewöhnlich große Zahl Menschen, die mir in ungewöhnlich deutlicher Weise geschrieben haben: „Wir wissen ja, dass du gut bewacht bist, aber deine Kinder werden wir uns mal vornehmen…“ Berührt hat mich aber, dass mir Menschen Briefe geschrieben und gesagt haben: Du hast meine Großmutter beleidigt, die war im Bund Deutscher Mädel. Die war eine einfache Frau, die hat mich großgezogen. Ich habe mich entschuldigt für den Fall, dass ich Menschen zu nahe getreten bin. Aber ich habe auch geschrieben: Wenn jeder gezwungen wurde, in den Bund Deutscher Mädel zu gehen, wenn jeder gezwungen wurde, in die Hitlerjugend zu gehen, wenn jeder gezwungen wurde, in die NSDAP zu gehen, wenn also alle Opfer waren – wer war denn dann Täter?
Ihr Vertrag an der Siemens-Spitze läuft in zwei Jahren aus. Sie können sich Haltung also leisten. Hätte sich ein jüngerer Joe Kaeser das auch getraut?
Kaeser: Das ist eine gute Frage. Man will mit Ja antworten. Aber es ist schon so, dass man zwischen Werten und Interessen abwägen muss. Ich glaube, wenn man sich aktiv einbringen will, sollte man schon mal etwas Ordentliches gearbeitet und geleistet haben. Zum Beispiel ein Unternehmen wie Siemens aus dem Schlingerkurs von 2013 herauszubringen.
Sie leben noch heute in Ihrem Heimatort. Was bedeutet für Sie der Begriff, der inzwischen wieder in aller Munde ist: Heimat?
Kaeser: Heimat muss ja nichts Geografisches sein. Ich halte das für einen Wertebegriff. Und der ist wichtiger denn je. Wir leben in einer Welt, die immer anonymisierter ist. Das hat damit zu tun, dass die Globalisierung immer schneller vonstattengeht. Das hat damit zu tun, dass wir alle etwas forcieren, was eine der größten Geiseln der Menschheit ist, nämlich die Urbanisierung. Das führt zu einer kompletten Destabilisierung der sozialen Ordnung: die Menschen sind alleine, der Zusammenhalt der Nachbarschaft verschwindet. Und je stärker das verloren geht, umso schwieriger ist es, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Deshalb ist der Begriff Heimat als eine soziale Ordnung unheimlich wichtig.
Sie gehen mit der Kanzlerin auf Reisen, gehen zu den Saudis, zu Wladimir Putin – und wenn Sie dann zu Hause sind, gehen Sie in den Feuerwehrverein. Wie ist das?
Kaeser: Das nennt man Erdung. Die Welt besteht aus mehr als nur großer Wirtschaft und großer Politik.
Heimat kann aber auch ausgrenzen. Wo verläuft für Sie die Grenze?
Kaeser: Man muss sehr deutlich unterscheiden zwischen Nationalismus und Patriotismus. Ich bin schon stolz, ein Deutscher zu sein. Ich bin stolz, Teil eines Landes zu sein, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg wie kein anderes Land entwickelt hat. Das Wirtschaftswunder ist ja nicht vom Himmel gefallen. Aber wenn Stolz zu Abgrenzung führt, dann sind wir auf dem Weg zum Nationalismus, zum Protektionismus - und damit habe ich ein Problem.
Sie haben direkt nach dem Studium bei Siemens angefangen und sind bis heute dabei. Wäre das heute noch möglich? Würde jemand wie Sie eingestellt?
Kaeser: Das wäre unwahrscheinlich. Heute liegen die Dinge ganz anders. Damals war man froh, wenn die Vorstellungsgespräche vorbei waren und man die Arbeitsstelle bekommen hat. Heutzutage läuft das anders: Die Bewerber interviewen mich. Sie fragen: Warum sollen wir zu Siemens kommen? Da brauchst du dann nicht mit Altersvorsorge zu kommen oder damit, dass die Gasturbine 62,8 Prozent Wirkungsgrad hat. Die Leute wollen wissen: Machst du etwas, das mir wichtig ist – für die Umwelt, für die Gesellschaft? Die wollen hören: Wir besiegen den Krebs. Wir sparen durch unsere Entwicklungen jedes Jahr 580.000 Tonnen CO2 ein. Und unsere Firma wird 2030 CO2-neutral arbeiten. „Purpose“ nennt man das im Englischen. Wörtlich heißt das Zweck, gemeint ist die Bestimmung: Welchen Wert hast du in der Gesellschaft? In der jüngeren Generation vollzieht sich ein Wertewandel. Und ich hoffe sehr, dass dieser Wertewandel hilft, die natürliche Spaltung der Gesellschaft zu reduzieren.
Überhöhen Sie Siemens damit nicht? Immerhin sind auch Sie Teil des Kapitalismus.
Kaeser: Natürlich hat man auch eine Verantwortung gegenüber den Aktionären. Siemens gehört mir ja nicht. Wir sind auch kein volkseigener Betrieb. Selbstbewusst kann man nur sein, wenn auch die Leistung stimmt. Wir müssen das Unternehmen für die nächste Generation aufstellen. Ich will nicht als der erinnert werden, der den Aktienkurs am stärksten in die Höhe getrieben hat. Ich will nicht als der erinnert erden, der auch noch die letzte Mark rausgeholt hat. Ich möchte erinnert werden als derjenige, der sein Bestes gegeben hat, um das Unternehmen zukunftsfähig zu machen.
Sie haben einmal gesagt, dass Deutschland nicht nur Waren, sondern auch Werte exportiert. Wie passt das mit Ihrem Pragmatismus zusammen?
Kaeser: Ein Unternehmen lässt sich nicht mit Werten alleine führen. Wir sind eine Aktiengesellschaft mit Gewinnerzielungsabsicht. Wenn Leute Geld investieren, kann ich denen nicht die ganze Zeit etwas von kranken Kindern im Jemen erzählen. Sonst sagen die irgendwann: Geh doch zum Roten Kreuz.
Passt dazu auch Ihr Ringen darum, ob Sie nach dem Mord am saudischen Journalisten Dschamal Kaschoggi nach Saudi-Arabien reisen oder nicht?
Kaeser: Nach dem brutalen Mord an Kaschoggi war mir klar, dass man nicht so einfach zur Tagesordnung übergehen kann. Andererseits sah man in dieser Situation auch Opportunismus in seiner schönsten Blüte. Die Unternehmen, die mit Saudi Arabien kaum Geschäfte machen, waren die Ersten, die ihre Teilnahme an der Konferenz abgesagt haben. Wenn die Interessen gering sind, ist die Moral größer. Siemens aber beschäftigt 2000 Menschen in Saudi-Arabien. Wir wollten einen Auftrag in Höhe von über 20 Milliarden US-Dollar unterzeichnen. Das sind umgerechnet ungefähr 10.000 Arbeitsplätze. Im Kopf hatte ich auch, dass ein Land mit 34 Millionen Menschen nicht unter Generalverdacht gestellt werden darf. Ich wollte also nach Saudi-Arabien fahren und den Kollegen sagen: Passt mal auf, wir haben ein Problem, ihr müsst das klären.
Das hätten Sie dem saudischen Kronprinzen gesagt?
Kaeser: Ich hätte es zumindest öffentlich gesagt. Aber dann kam die Pressemitteilung des saudischen Gerichtshofs, dass der Tod von Kaschoggi ein Unfall gewesen sei. Er sei bei einem Faustkampf gestorben. Wirklich? Ein Unfall mit 50 Geheimdienstleuten, die zufällig in der Botschaft waren? Und die Leiche hat einer abgeholt, den niemand kennt? Man hat gemerkt, dass Saudi-Arabien nicht in der Lage ist, diesen Dialog zu führen. Deshalb habe ich die Reise abgesagt.
Sie gelten als Vertrauter von Kanzlerin Angela Merkel. Sind Sie traurig, dass sie sich zurückzieht?
Kaeser: Das muss jeder selber wissen. Fest steht, dass sie eine der angesehensten Regierungschefs in der Welt ist, die wir je hatten.
Mit Friedrich Merz hat jemand für ihre Nachfolge kandidiert, der der Wirtschaft sehr verbunden ist. Sind Sie enttäuscht, dass er nicht zum Zuge gekommen ist?
Kaeser: Ach, wissen Sie, ich bin weder CDU- noch CSU-Mitglied. Die Wahl war Aufgabe der Mitglieder. Ich kenne Frau Kramp-Karrenbauer, mit Friedrich bin ich befreundet. Aber das heißt nicht, dass ich Präferenzen hätte.
Wäre es nicht ein Signal an den Wirtschaftsflügel gewesen, jemanden wie Merz ins Kabinett zu holen?
Kaeser: Ich glaube, dass unser Land gut beraten wäre, sich zu überlegen, welches Bild wir in der Welt abgeben. Oft tragen wir alle unsere Sorgen und Befindlichkeiten in die Welt hinaus. Das können andere besser. Wir müssen die besten Kräfte für die wichtigsten Aufgaben holen. Der Friedrich Merz wäre auf jeden Fall eine Bereicherung für eine Regierung. Aber im Augenblick ist meines Wissens kein Platz frei.
Wie haben Sie die Landtagswahl in Bayern und die anschließende Regierungsbildung empfunden?
Kaeser: Wenn Sie heute nach Amerika, China, Indien oder in andere große Wirtschaftszentren reisen, fragen die Menschen nach der Bundeskanzlerin. Nach Bayern fragt mich niemand. Bayern ist ein wunderbares Bundesland – aber eben auch nur ein Bundesland. Das, was wir vor der Wahl und auch danach gesehen haben, ist kein gutes Beispiel dafür, wie man miteinander umgeht. Dieses Hin und Her, der Rücktritt vom Rücktritt, diese Sticheleien, dieses ganze Gezerre. Die Menschen wollen das nicht. Die haben selber genug am Hals. Politik ist ja auch kein Gefängnis, man muss ja nicht bleiben, wenn es einem nicht mehr passt. Ich habe mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder über die AfD gesprochen. Ich verstehe nichts von Politik. Aber im Marketing heißt es: Wenn Sie eine Marke kopieren, dann stärken Sie das Original. Am Ende des Tages hat man gesehen, dass man rechts von der CSU nicht sonderlich viel gewonnen hat, dafür links sehr viel verloren. Ich kann mit dieser Diskussion wenig anfangen, dass mir mir sind und alle anderen zweite Garnitur.
Der frühere Verteidigungsminister Karl-Friedrich zu Guttenberg hat gemahnt, dass die CSU zur Regionalpartei verkommt. Ist das berechtigt?
Kaeser: Man muss Herrn Söder wirklich zubilligen, dass er sich für sein Bundesland einsetzt. Er lebt das mit Herz und Seele. Ich sehe aber auch: Wer so stark für seine Heimat lebt, gleichzeitig aber einen überregionalen Anspruch hat, der hat eine schwierige Aufgabe. Wenn man einen bundespolitischen Anspruch anmeldet, dann muss es „Deutschland first“ heißen und nicht „Bayern first“. Bayern kann auch mal „first“ sein, aber erst wenn die andere Ebene abgearbeitet ist. Und das war zunehmend schwierig.
Sie werden in zwei Jahren 63. Reizt Sie die Politik?
Kaeser: Dafür bin ich viel zu ungeduldig. Ich kann ganz ekelhaft werden. Wenn ich mich mit Themen befassen müsste, die unlösbar sind, da wäre ich überhaupt nicht auszuhalten.
Zur Person: Joe Kaeser, 61, geboren in Niederbayern, hat bei Siemens sein ganzes Berufsleben verbracht. Nach dem BWL-Studium begann er 1980 in der Sparte Bauelemente. Er wurde Vorstand der Mobilfunksparte, Leiter der Konzernstrategie unter dem damaligen Siemens-Chef Heinrich von Pierer und 2006 unter dessen Nachfolger Klaus Kleinfeld Finanzvorstand. Im August 2013 rückte er an die Siemens-Spitze.