Startseite
Icon Pfeil nach unten
Wirtschaft
Icon Pfeil nach unten

Region Augsburg: Wie der Online-Versandhändler Amazon die Region verändert

Region Augsburg

Wie der Online-Versandhändler Amazon die Region verändert

    • |
    Vor fünf Jahren nahm das Logistikzentrum Amazon in Graben bei Augsburg den Betrieb auf.
    Vor fünf Jahren nahm das Logistikzentrum Amazon in Graben bei Augsburg den Betrieb auf. Foto: Ulrich Wagner

    Heiligabend ist erst in vier Monaten, in der Augsburger Arbeitsagentur hat die Weihnachtssaison aber längst begonnen. Hunderte Menschen hat die Behörde in den vergangenen Wochen angeschrieben. Der Grund: ein Auftrag, der vor Kurzem auf dem Schreibtisch von Agenturchef Reinhold Demel gelandet ist. Der Online-Versandhändler Amazon sucht rund 1500 Saisonkräfte für sein Logistikzentrum in Graben bei Augsburg. Knapp die Hälfte soll die

    In den Wochen vor Weihnachten, wenn die Deutschen im Sekundentakt ihre Geschenke ordern, herrscht Hochbetrieb in den neun Amazon-Logistikzentren. Die Bücher, Parfums und Rasierer, die später unter dem Weihnachtsbaum landen, müssen aus den Regalen geholt, eingepackt und versandt werden. In Graben wird die Zahl der Mitarbeiter sich in dieser Zeit fast verdoppeln, bevor sie Ende Januar wieder auf ihre normale Größe zurückgeht.

    Wenn die Saisonarbeiter ihren Dienst in Graben antreten, dann ist das ein kleines Jubiläum für das Unternehmen. Denn der Standort feiert in diesem Jahr seinen fünften Geburtstag. Am 2. September 2011 haben die ersten Päckchen das Logistikzentrum in verlassen. Der 110.000 Quadratmeter große Standort war zuvor innerhalb weniger Wochen aus dem Boden gestampft worden. Monatelang war verhandelt worden. Ein Standort im Augsburger Stadtteil Lechhausen war ebenfalls im Gespräch. Am Ende machte Graben das Rennen – auch weil der Augsburger Landrat Martin Sailer dem Unternehmen den Bau eines Bahnhalts gegenüber des Firmengeländes zusicherte.

    Jetzt, fünf Jahre später, zeigt sich: Es gibt in der Region eine Zeit vor der Ansiedlung von Amazon und eine Zeit danach. Wie das Davor aussah, lässt sich gut an der Arbeitslosenquote beobachten. Reinhold Demel sitzt in seinem Büro im Augsburger Norden und zeichnet mit dem Finger den Verlauf der Kurve nach. In den Jahren vor 2011 lag die Quote im Agenturbezirk Amazon sich ansiedelte, fiel die Kurve um ganze 0,7 Prozentpunkte ab und blieb bei 4,2 Prozent stehen. Seitdem pendelt sie zwischen 4,3 und 4,5 Prozent.

    Die Monate nach der Ansiedlung sind eine Zeit, in der Demel ununterbrochen Rekorde vermelden kann. Im Januar 2012 rutscht die Zahl der Jobsuchenden erstmals seit 20 Jahren unter die Grenze von 13.000. Zum Dezember steigt die Arbeitslosigkeit nicht wie sonst saisonbedingt an – sie sinkt stattdessen. Ein Ding der Unmöglichkeit eigentlich, etwas, das auf dem Arbeitsmarkt sonst nicht passiert.

    Der Konkurrenzkampf um Mitarbeiter wurde größer

    Zum Danach gehört auch das, was Demel den „Amazon-Effekt“ nennt: Weil der Konkurrenzkampf um Mitarbeiter größer geworden ist, sind die Löhne in der Region angestiegen. Und dann ist da natürlich noch die Einstellungspolitik: Die Menschen, die der Versandhändler beschäftigt, sind oft ungelernt, langzeitarbeitslos, auch 150 Flüchtlinge arbeiten mittlerweile bei Amazon. Es sind die Menschen, die Arbeitsagenturchefs wie Reinhold Demel stets am meisten Sorgen machen. Denn sie in Arbeit zu bringen, ist schwer. Wenn der Behördenleiter über den Online-Riesen spricht, dann fällt deshalb früher oder später stets der gleiche Satz: „Amazon ist eine Erfolgsgeschichte, ein Segen für die Region.“

    Es ist aber auch eine Geschichte, die zwei Seiten hat. Die eine, das ist die Geschichte des Jobmotors, der seit fünf Jahren ununterbrochen läuft. Die andere klingt weniger schön. Schon kurz nach der Ansiedlung von Amazon haben Mitarbeiter Vorwürfe gegen ihren neuen Arbeitgeber erhoben: Von Stress, Druck und Schikane war da die Rede. Von einem Arbeitsklima, in dem Mobbing zum Alltag gehört. Als die ARD Anfang 2013 eine Dokumentation mit dem Titel „Ausgeliefert! Leiharbeiter bei

    Die Fernseh-Sendung und die anschließende Berichterstattung markieren einen Wendepunkt in der deutschen Amazon-Geschichte. Plötzlich sehen viele Kunden den Versandhändler mit anderen Augen. Im Internet wird zum Boykott aufgerufen. Bis heute gibt es Menschen, die seitdem nicht mehr bei Amazon eingekauft haben.

    Der Konzern, der von sich sagt, er sei das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt, ist plötzlich zum Kundenschreck geworden. Man nehme die Vorwürfe „sehr ernst“, lässt Amazon dann auch damals verlauten. Es ist der Punkt, an dem einer der abgeschottetsten Konzerne der Welt sich plötzlich ein bisschen bewegt. Die Presseabteilung in München wird aufgestockt, Angaben über Mitarbeiterzahlen werden nicht mehr geheimgehalten.

    Letztlich hat es auch dazu geführt, dass Markus Neumayer jetzt in regelmäßigem Abstand Besucher durch das Logistikzentrum in Graben führt. Neumayer, sonnengebräunt, kariertes Hemd unter der gelben Warnweste, ist stellvertretender Werksleiter. Er bahnt sich seinen Weg durch die riesigen Hallen, vorbei an Pickern, die die Bestellungen aus den Regalen holen, und an Packern, die die Waren in die charakteristischen Amazon-Kartons verpacken.

    Neumayer grüßt alle Vorbeikommenden, manche mit Handschlag, manche mit einem Winken. „Früher“, sagt er, „haben wir bei Amazon nur auf uns selbst geschaut“. Irgendwann habe das nicht mehr funktioniert. Heute fährt das Unternehmen eine andere Strategie: Jeder soll sich die Arbeit im Logistikzentrum anschauen können. „Uns ist wichtig, dass man sich selbst ein Bild macht“, sagt der stellvertretende Werksleiter. Man könnte auch sagen: Amazon will wieder selbst bestimmen, wie Amazon wahrgenommen wird.

    Manager kümmern sich um die Gesundheit der Mitarbeiter

    Neumayer berichtet von Gesundheitsmanagern, die sich an jedem Amazon-Standort darum kümmern, dass es den Mitarbeitern gut geht. Er erzählt von einem Karriereprogramm, über das Beschäftigte eine zusätzliche Weiterbildung bezahlt bekommen. Und von zusätzlichen Prämien, die junge Mütter zur Geburt ihres Kindes erhalten. Einen Betriebsrat gibt es seit zwei Jahren in Graben.

    Fragt man Thomas Gürlebeck, dann ist das alles auch Ergebnis des jahrelangen Bohrens der Gewerkschaft. Gürlebeck ist Gewerkschaftssekretär bei Verdi und einer der härtesten Kritiker von Amazon in der Region. Er hat immer wieder die Zahl der Krankheitstage in Graben angeprangert, den Umgang mit Schwangeren, die Kontrollen. Ob denn heute alles gut sei? Gürlebeck muss kurz überlegen. „Es ist besser geworden“, sagt er dann. Er sagt, es gebe aber immer noch diese Geschichten: von willkürlichen Abmahnungen, von Schikane. Immer wieder ruft die Gewerkschaft deshalb zum Streik auf. Auch, weil sie Amazon dazu bewegen will, nach dem besser vergüteten Tarifvertrag im Einzel- und Versandhandel zu zahlen. Im Moment orientiert sich das Unternehmen an an der Bezahlung in der Logistikbranche.

    Ein Tarifvertrag passt allerdings nicht zum Selbstverständnis des Unternehmens. „Das brauchen wir nicht“, sagt der stellvertretende Werksleiter Neumayer. „Das können wir auch so mit unseren Mitarbeitern regeln.“ Gewerkschafter Gürlebeck will sich damit nicht zufrieden geben. Er spricht von dicken Brettern, die noch gebohrt werden müssten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es immer wieder Mitarbeiter gibt, die sich über die Streiks ärgern. Die öffentlich betonen, dass es ihnen gut geht, dass sie gerne bei Amazon arbeiten. Es scheint, als habe jeder sein eigenes Bild von dem Unternehmen. Die Geschichte von Amazon in der Region – sie wird wohl noch lange eine Geschichte mit mehreren Seiten bleiben.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden