Hätte dieser Tag ein Drehbuch, dann müsste man das jetzt wohl eine kleine Panne nennen: Es ist kurz vor acht Uhr morgens in einem Einkaufszentrum im Münchner Stadtteil Neuperlach. Hier soll gleich die neueste Filiale der Handelskette Primark eröffnen. Die Mitarbeiter halten blaue Ballons in den Händen, sie zählen von zehn herunter, die Glastüren gleiten beiseite. Alles ist bereit – aber die Kundschaft fehlt.
Eine Minute vergeht, dann eine zweite. Einige Verkäufer tanzen zu einem Lied des Popsängers Ed Sheeran, andere schießen Selfies, drehen kurze Videos. Schließlich kommen die ersten Kunden angerannt, junge Mädchen mit wehenden Haaren, Mütter mit Kinderwagen. Sie mussten noch den Weg vom Eingang des Einkaufszentrums zurücklegen, das erst um acht Uhr öffnet. Eine kleine Hürde, die ihren Start beim Shopping-Sprint verzögert hat. 15 Minuten später wird ein Mitarbeiter am Eingang bereits den 1000. Besucher zählen. Das Prinzip Primark, es hat wieder funktioniert.
Der neue Primark in München erstreckt sich über 6000 Quadratmeter
Alles andere wäre auch eine Überraschung. Wenn Primark eine Filiale einweiht, gehören Gekreische und Gedrängel längst zum Programm, jede Eröffnung ist eine Art Konsum-Eskalation mit Ansage. In Hamburg musste eine Mutter ihren eingekeilten Kinderwagen über die Köpfe der Wartenden hinweg hieven, in Essen schloss die Filiale am ersten Tag für mehrere Stunden wegen Überfüllung. Und das, obwohl die Läden von vorneherein deutlich geräumiger sind als die anderer Modehändler. Allein die Münchner Filiale – Nummer 26 in Deutschland – verteilt sich auf 6000 Quadratmeter Verkaufsfläche, dazu kommen 66 Kassen, 67 Umkleiden. Primark gibt es nur in Übergröße.
Keine andere Handelskette löst derzeit in Deutschland eine ähnliche Hysterie aus wie der irische Textildiscounter, der für seine Schleuderpreise bekannt ist. Eine Million Kunden besuchen nach Unternehmensangaben jede Woche einen Primark-Laden. Mit 774 Millionen Euro Umsatz landete die Kette 2016 nur auf Platz 15 der größten Modehändler des Landes. Jahr für Jahr kämpft sie sich aber weiter nach vorne. Besonders Frauen zwischen 15 und 25 Jahren sind es, die Primark immer öfter Läden wie H&M, C&A oder auch Kik vorziehen.
Den Grund dafür sieht man schon nach den ersten Sekunden im Laden: Hier lassen sich mit wenig Geld gleich mehrere Einkaufstüten füllen. Viele Teile, die auf den Verkaufstischen in München liegen, kosten weniger als ein Latte macchiato in der Kaffeebar nebenan. Flip-Flops für 1,50 Euro, T-Shirts für 2,50 Euro, Gürtel für 3 Euro, eine weiße Jeansjacke ist für 15 Euro zu haben. Das teuerste Kleidungsstück ist aktuell ein Herrensakko für 47 Euro. Auf drei Etagen gibt es nahezu alles: Hosen, Blusen, Schuhe, aber eben auch Springseile, elektrische Zahnbürsten oder Schwimmreifen. Primark ist ein Kaufhaus für Menschen, die schon lange nicht mehr in traditionelle Kaufhäuser gehen.
Warum ist der Billigmode-Konzern Primark so erfolgreich?
Wer wissen will, was das Erfolgsrezept des Konzerns ist, muss Tina Weber fragen. Weber ist Professorin für International Fashion Retail an der Hochschule Reutlingen, beschäftigt sich also mit dem weltweiten Modehandel. Der Erfolg von Primark, erläutert die Expertin, beruhe vor allem auf zwei Säulen: Die Kleidung kostet sehr wenig, ist dabei aber deutlich modischer als die anderer Textildiscounter wie Kik oder Takko. Dazu kommt: Während sich die Billig-Wettbewerber oft in Gewerbegebieten oder Randlagen ansiedeln, beziehe Primark ausschließlich große Läden in den besten Gegenden, die Einrichtung sei hochwertig und ansprechend. „Damit hebt sich Primark deutlich von der Konkurrenz ab“, betont Weber. Der Konzern habe es geschafft, sich „ein trendiges Image aufzubauen“. Während eine Tüte von Kik verschämt in der Tasche versteckt wird, tragen Kunden die braunen Papiertüten von Primark oft wie Trophäen aus dem Laden heraus.
Allerdings sorgen die Primark-Preise regelmäßig für Kritik. Der Modehändler ist in Deutschland mittlerweile so umstritten wie kein anderer. Bündnisse aus Kirchen, Gewerkschaften und anderen Organisationen rufen regelmäßig zum Boykott auf. Der Konzern geht das Thema offensiv an. In der neuen Filiale in München hängen überall Poster, die den Kunden erklären sollen, wie das eigentlich funktionieren kann – Kleidung zu Primark-Preisen zu produzieren. Gefertigt wird, wie in der Branche üblich, vor allem in Bangladesch. Eigene Fabriken hat Primark nicht. Die Einkaufspreise sind nach Konzernangaben nicht niedriger als bei den Wettbewerbern, aber die Margen knapper. Gespart werde also nicht an den Löhnen der Näherinnen, sondern an anderer Stelle: So verzichtet Primark auf teure Werbung, hochwertige Etiketten und Bügel. Und die Textilien werden ausschließlich in großen Mengen bestellt. Das Stichwort, das in diesem Zusammenhang immer wieder fällt, ist „Prozesseffizienz“. Das gilt auch in der Verwaltung. In der Deutschland-Zentrale in Essen arbeiten nur 40 Menschen, deren Chef Wolfgang Krogmann bucht sogar seine Reisen selbst. Expertin Tina Weber glaubt, dass Primark „an einigen Stellen tatsächlich kosteneffizienter als die Konkurrenz“ ist. Wie nachhaltig die Lieferkette tatsächlich sei, lasse sich von außen aber schwer beurteilen.
In der Branche ist Primark gefürchtet. Zwar haben H&M oder C&A allein in Deutschland 20 Mal so viele Filialen wie die irische Kette. Aber Mode ist ein hartes Geschäft. Die Händler müssen sich untereinander einen Kuchen aufteilen, der von Jahr zu Jahr eher kleiner wird als größer. Und jeder zusätzliche Wettbewerber sorgt dafür, dass immer weniger für die anderen übrig bleibt – besonders, wenn er so aggressiv in den Markt drängt wie Primark.
Primark verdrängt H&M spürbar vom Markt
Spricht Gerrit Heinemann über den Textildiscounter, dann nennt er ihn einen „Haifisch“. Einen Angreifer, der stark auftritt und seine Konkurrenten schwächt. Heinemann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der deutschen Handelslandschaft. Der Fachmann von der Hochschule Niederrhein ist überzeugt, dass Primark den Modehandel und die Fußgängerzonen ähnlich tief greifend verändern wird wie es einst die ersten Filialgeschäfte getan haben : Ketten, deren Ableger heute in nahezu jeder Einkaufsstraße zu finden sind.
Er nennt das die „Deichmannisierung“ der Innenstädte. Analog dazu folge nun die „Primarkisierung“: ein Kampf um Kunden, der in erster Linie über den Preis ausgetragen wird. Wenn sich Händler gegenseitig immer weiter unterbieten, könne der Kunde kaum anders, als den billigsten zu bevorzugen. Die Schnäppchenjagd gehört quasi zu seiner DNA. „Beim Preis ist dem Verbraucher alles egal“, betont Heinemann. „Man könnte auch sagen: Der Kunde ist im Zweifel käuflich.“
Die Wettbewerber spüren bereits, wie der Markt sich ändert. Während Primark Laden um Laden öffnet, muss H&M einige Filialen schließen. Jahrelang wuchs der zweitgrößte Modekonzern der Welt, nun scheint es, als habe dieses Wachstum seine Grenzen erreicht. Zuletzt verkaufte er deutlich weniger Kleidung, die Zahl der Kunden sank. Heinemann sagt, der Händler mit den roten Buchstaben habe vor allem beim Internethandel den Anschluss verloren. Der Experte vergleicht den Konzern mit seinen relativ zentralen Strukturen mit einem Tanker, der sich nicht mal eben in eine andere Richtung lenken lasse. „Das schafft Raum für aggressive Anbieter wie Primark.“ Dieser könnte H&M nun mit seinen eigenen Waffen schlagen. Denn bisher hat stets der schwedische Konzern den Ton und die Richtung in der Branche vorgegeben. „H&M ist mit sehr niedrigen Preisen groß geworden.“ Nun aber unterbietet Primark diese noch. Heinemann ist überzeugt, dass die Anteile und damit die Kunden, die H&M verloren hat, „direkt zu Primark wandern“.
Primark-Kunden schätzen vor allem die niedrigen Preise
Tina Weber, der Professorin aus Reutlingen, macht der Preiskampf in der Branche Sorge. Er fördere eine „Wegwerfmentalität“. Denn so entstehe der Eindruck, dass sich Kleidungsstücke immer wieder ersetzen lassen. Längst gehöre es zum Lebensstil des Primark-Kunden, „ständig Neues zu tragen“. Wie sich das äußert, lässt sich in der Münchner Filiale beobachten. Kunden stopfen ihre Einkaufssäcke voll mit T-Shirts, Hosen oder Socken. Vieles wird direkt zur Kasse getragen, wenn die Schlange an der Umkleidekabine zu lang ist.
Wolfgang Krogmann ärgert, dass seine Produkte als Wegwerfware wahrgenommen werden. Am Morgen hat der Deutschland-Chef von Primark die Beschäftigten der Münchner Filiale noch in sechs Sprachen auf ihre neue Aufgabe eingeschworen, jetzt sitzt er in der Mitarbeiter-Kantine im obersten Stockwerk. Er holt etwas aus, das Thema ist ihm wichtig. „Wir haben Kunden, die sehr wenig Geld haben“, betont er. „Diese Kunden werfen mit Sicherheit nichts weg, denn sie können es sich gar nicht leisten.“
Alle anderen könne er nur bitten, „Dinge, die von Menschen produziert werden, mit Achtung zu behandeln“. Wer auf seinen Primark-Pulli achte, habe davon genauso lange etwas wie von dem Oberteil eines anderen Herstellers. „Wie er mit unseren Kleidungsstücken umgeht, muss aber jeder Kunde selbst entscheiden.“ Und dann sagt er noch einen Satz, der auch das Motto seines Konzerns sein könnte: „Am Ende ist jeder Euro, der gespart wird, ein Euro, den man anderweitig ausgeben kann.“