Es gehört zu den größten Herausforderungen, einem Menschen nahezukommen. Zu drückend ist meist der Ballast an abgespeicherten Meinungen. Das erschwert den Blick in das Innere. Wer sich aber des Rucksacks entledigt, kann einen Menschen, den er zu kennen glaubte, neu entdecken.
Im Falle von Clemens Haindl, dem einstigen Chef des gleichnamigen Augsburger Papierkonzerns, bringt der Akt der Befreiung einen vielschichtigen Mann ans Tageslicht. Vor dem Verkauf der Firma an den finnischen Riesen UPM begegnete Haindl Wirtschaftsjournalisten als zielstrebiger, investitionsfreudiger und schwäbisch gut haushaltender Lenker des letzten großen europäischen Familienbetriebs in der Branche. Dem schlanken Manager mit dem vollen, nach rechts gescheitelten Haar haftete etwas Entschlossenes, ja Verwegenes an. Haindl vermittelte den Eindruck, es mit den börsennotierten Schwergewichten aufnehmen zu können.
Aus heutiger Sicht wählte Haindl den optimalen Zeitpunkt, um das Unternehmen 2001 für damals rund 7,3 Milliarden D-Mark zu veräußern. Zu einem späteren Zeitpunkt hätte er nie mehr so viel für das Augsburger Traditionshaus erlöst. Ein guter Unternehmer, sagt Haindl, müsse eben immer ein bis zwei Jahre vorausdenken können.
In unserem Erinnerungs-Rucksack findet sich auch die Geschichte, wie Haindl den Standort Augsburg rettete, indem er dort für knapp 750 Millionen D-Mark die bis heute weltweit als technologisch führend geltende Papiermaschine PM 3 errichten ließ. Die riesige Anlage verfügt über zehn Mal so viele Regelkreise wie ein Boeing-Flugzeug. Beinahe wäre das Wunderwerk mit dem Deutschen Zukunftspreis bedacht worden.
Das damalige Bild von Clemens Haindl zeigt einen geradlinigen Mann. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass er unter seinen Mitarbeitern beliebt war und bis heute hohes Ansehen im Kreise ehemaliger Angestellter genießt. Dazu mag nicht zuletzt beigetragen haben, dass die Familie 73 Millionen D-Mark an die Beschäftigten ausschütten ließ, nachdem ihr Betrieb in finnische Hände überging. Der Unternehmer erwies sich hier als Mann guter Argumente. Haindl gelang es, den Sinn des Geschäftes zu begründen. Viele verstanden, dass ein Familienunternehmen gegenüber Aktiengesellschaften, die leichter an Kapital kommen, ins Hintertreffen gerät. Diese Begebenheiten legen einem das Bild eines Mannes nahe, der als studierter Betriebswirt seinen Traumjob gefunden hatte.
Heute, zehn Jahre nach dem großen Deal, sitzt Haindl in seinem Augsburger Büro und sagt: „Ich wollte nie zu Haindl.“ Und: „Ich habe auch promoviert, um meinen Vater länger hinhalten zu können.“ Das ist der Moment, um den Versuch zu starten, alle auf der Hirnfestplatte liegenden Informationen über Haindl, der am Samstag 75 Jahre alt wird, zu ignorieren. Es kommt ein Mann zum Vorschein, der ein Ingenieur sein könnte, derart gut kennt er sich mit Technik aus. Um seinen Schreibtisch stehen eine kleine Dampfmaschine und Fahrzeuge aller Art im Miniaturformat. Auch war der Manager mit seinem Unternehmen einst Besitzer der Fluggesellschaft Augsburg Airways.
Der verstorbene Journalist Herbert Riehl-Heyse schrieb in seiner unnachahmlichen Art: „Wenn man unbedingt einmal in einem Aufzug stecken bleiben möchte, sollte man das am besten in Clemens Haindls Gegenwart tun.“ Die beiden Männer waren Freunde. Der frühere Papierproduzent schätzt Journalisten, „auch linksverdächtige“, wie Riehl-Heyse festhielt.
Was den Aufzug betrifft, spielte der Publizist auf eine wahre Begebenheit an. Einen verschlossenen Aufzug öffnete Haindl einmal nur mit einem Bleistift: „Ich wollte nicht mit der Hand reinfassen.“ Dabei lacht er, wie oft ein wenig keck und süffisant. Haindl zieht ein kleines Taschenmesser aus der Hosentasche: „Damit kann ich immer etwas reparieren.“ Das gerade gekaufte Fax-Gerät schließt Haindl selbst an. Er wollte aber nie Ingenieur werden, sondern seine nach dem Studium begonnene Arbeit als Industrie-Soziologe fortsetzen. Haindl hat über den Vier-Schicht-Betrieb in der Papierbranche promoviert.
Bei dem Thema kommt ein weiterer Charakterzug zum Vorschein: Der Mann hat Temperament. Er regt sich über die Guttenbergs und Koch-Mehrins auf, deren Doktorarbeiten Mängel aufweisen: „Es ist unehrenhaft, was diese Menschen getan haben. Ich habe alles selbst recherchiert.“ Haindl ist meinungsstark und schätzt Menschen, die nicht zum Klub der Jasager gehören. Künstler wie Markus Lüpertz gehören zu seinen Gesprächspartnern wie auch Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann. In solchen Runden mit Haindl geht es lebenslustig und diskussionsfreudig zu. Humor, durchaus auch einmal ätzender, ist erlaubt. Kein Wunder, dass sich der Unternehmer so gut mit dem Ironie- Großmeister Riehl-Heyse verstand.
Haindl ist ein freier Geist, den ein ambivalentes Verhältnis mit seiner Heimat Augsburg verbindet. Einerseits spricht er immer noch anerkennend über die hoch qualifizierten Mitarbeiter und Papier-Experten der Stadt, die maßgeblich Anteil am Aufstieg des Unternehmens hatten. Doch der aus seiner Sicht in der Stadt herrschende Kleingeist macht ihn rasend. Noch heute spricht Haindl voller Zorn über die ablehnende Haltung vieler Augsburger gegenüber der Skulptur „Aphrodite“ des weltweit anerkannten Künstlers Lüpertz. Die Firma Haindl wollte sich an der Aufstellung der von Ellinor Holland, der verstorbenen Herausgeberin der Augsburger Allgemeinen, auf Wunsch der Stadt gestifteten Figur beteiligen. Er hatte sich vorgenommen, Augsburg Sockel und Umfassung für die Brunnenfigur zu schenken. Es kam anders. Diese tiefe Wunde ist bei Haindl nicht verheilt. Sonst spricht er gelassen über sein Leben und pariert Versuche, ihm Details über die Struktur seines Vermögens zu entlocken, mit Humor. So viel verrät er immerhin: Der finanzielle Besitz habe durch die Finanzmarktkrise keinen Schaden erlitten. Auch wenn Haindl ein Faible für kritisch nachfragende Journalisten hat, will er die Höhe des Kontostands nicht nennen. „Deutschland ist ja eine Neidgesellschaft“, sagt er. Dabei lässt sich ihm zumindest entlocken, dass die soziale Haindl-Tradition eine Fortsetzung erfahren hat. Die Familie hat sich mit anderen wohlhabenden Gruppierungen an einer Fondsgesellschaft namens „BonVenture“ beteiligt. Hier wird Risikokapital an sozial handelnde Unternehmen vergeben, um deren Engagement langfristig zu fördern. Beispielsweise fließt der Münchner Obdachloseninitiative „BISS“ Geld zu. Insofern ist Haindl immer noch ein Unternehmer, auch wenn er sich in seiner typisch auf Understatement ausgelegten Art als Rentner bezeichnet.
Bei der Analyse der politischen Verhältnisse in Augsburg („Oberbürgermeister Kurt Gribl kann einem leidtun“) wähnt man sich im Gespräch mit einem Kollegen. Ein solcher Journalist, noch dazu der Autor und Ironie-Sachverständige Axel Hacke, schrieb einst zum 65. Geburtstag des Augsburgers: „Der Clemens hat bald auch keine Fabrik mehr, höre ich. Das ist sehr schade. Einen netteren Papierfabrikanten finde ich im Leben nicht mehr.“