Frau Herrmann, Sie haben sich für Ihr Buch intensiv mit dem deutschen Wirtschaftswunder befasst. Was würde sein Schöpfer, Ludwig Erhard, in der aktuellen Krise tun?
Ulrike Herrmann: Ludwig Erhard hätte nichts gemacht. Die Deutschen haben ein verzerrtes Bild von Erhard. Die Idee ist falsch, dass Erhard als Wirtschaftsminister höchstpersönlich das Wirtschaftswunder geschaffen hätte. Erstens ist ganz Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg stürmisch gewachsen, manche Länder sind pro Kopf sogar noch schneller gewachsen als Deutschland, Spanien etwa. Was ja auch klar ist. Die Europäer haben die ganze technische Entwicklung nachgeholt, die sich in den USA schon abgespielt hatte. Und zweitens waren es die Amerikaner, die dieses westeuropäische Wirtschaftswunder erst möglich gemacht haben, indem sie die Europäer zur ökonomischen Zusammenarbeit zwangen. Der Einzige, der in diesem ganzen Geschehen überhaupt nicht aktiv wurde, war Erhard. Erhard war immer gegen alle Projekte, die wichtig wurden, also gegen die Europäische Zahlungsunion, gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Es war Adenauer, der das durchgesetzt hat. Er war der wichtigste Wirtschaftspolitiker der Nachkriegszeit, nicht Erhard.
Im Sommer 1951 hatten nur wenige Deutsche ein gutes Bild von Ludwig Erhard
Aber Erhard gilt doch als Erfinder der D-Mark...
Herrmann: Es stimmt, auch dafür steht er. Aber die D-Mark war keine deutsche Erfindung, auch keine von Erhard, sondern das Werk der Amerikaner. Das Konzept stammte wesentlich von zwei deutschen Juden, die vor Hitler in die USA geflohen waren. Es ist geradezu tragisch, dass die Deutschen denken, die D-Mark stamme von Erhard. So werden die eigentlichen Erfinder quasi im Nachhinein noch einmal enteignet und um ihr intellektuelles Erbe gebracht. Erhards Beitrag war nur, dass er parallel zur Währungsreform auch viele Preise freigegeben hat. Aber das hat sich schnell als Fehler herausgestellt. Denn durch den eklatanten Mangel, der nach dem Krieg herrschte, schossen die Preise nach oben. Die Bürger mussten die bizarre Erfahrung machen, dass sie zwar neues Geld hatten, sich damit aber nichts kaufen konnten.
Wenn Erhard gar nichts oder nur das Falsche gemacht hat, warum haben wir dann so ein positives Bild von ihm?
Herrmann: Dieses positive Bild war eine relativ späte Entwicklung. Im Sommer 1951 war die Lage für Erhard katastrophal: Nur noch 14 Prozent der Deutschen waren davon überzeugt, dass er als Politiker eine gute Figur macht. Satte 49 Prozent hielten ihn für einen Versager. Aber 1952, sieben Jahre nach dem Krieg, kam endlich der fühlbare Aufschwung. Dieser hatte zwar nichts mit Erhard zu tun, aber Erhard hatte eine wirkliche Begabung: Er hat sich immer gut in Szene gesetzt. Man muss neidvoll anerkennen, dass er ein Talent zur Selbstdarstellung besaß. Zudem hielt er sich selber für ein Genie, was seine Wirkung noch vergrößert hat.
Das ganze Land ist also einem Blender aufgesessen?
Herrmann: Erhard kam aus der Werbung. Er hat in Nürnberg beim Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware gearbeitet. Dort wurden schon vor der Hitler-Zeit amerikanische PR-Methoden zum ersten Mal in Deutschland ausprobiert. Daher wusste er, wie Vermarktung funktioniert. Dieses Wissen hat er auf sich selbst angewendet. Zudem gab es noch Millionenspenden aus der Industrie, die einen Verein namens „Die Waage“ gründete, um Erhard zu promoten als Vater der sozialen Marktwirtschaft und der D-Mark. Der Erhard-Werbeverein hat nicht nur ganzseitige Anzeigen geschaltet, sondern diese auch mit Umfragen begleitet, um zu sehen, ob die Botschaft bei den Leuten ankommt. Das gab es vorher in Deutschland nicht.
Deutschland kommt nur mit Europa aus der Corona-Krise
Wenn nicht von Erhard selbst, kann man dann wenigstens aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte etwas lernen?
Herrmann: Ja, und zwar: Deutschland hätte ohne die Zusammenarbeit mit seinen europäischen Nachbarn niemals ein Wirtschaftswunder erlebt. Es ist völlig irreführend, nur auf Deutschland zu gucken, wenn man den eigenen Erfolg erklären will. Das hat Angela Merkel jetzt offensichtlich verstanden. Wenn sie zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron den Plan entwickelt hat, 500 Milliarden Euro auszugeben, um ganz Europa in der Corona-Krise zu stabilisieren, dann ist das letztlich eine Lehre aus der Europapolitik, wie sie schon Adenauer und de Gaulle betrieben haben.
Aber ist in der Corona-Krise nicht eine Rückbesinnung aufs Nationale zu beobachten? Kommt jetzt die Gegenbewegung zur immer stärkeren Globalisierung der Wirtschaft?
Herrmann: Aus meiner Sicht wird sich an der Globalisierung überhaupt nichts ändern. Vielleicht wird man Schutzanzüge und wichtige Medikamente wieder in Europa herstellen, damit man gerüstet ist, falls ein neues Virus auftaucht. Aber ansonsten wird man an der Globalisierung festhalten. Denn dies ist die billigste Art zu produzieren: Waren werden umso kostengünstiger, je mehr Stück man davon herstellt. Große Fabriken sind klar im Vorteil. Das führt aber dazu, dass man einen Weltmarkt braucht, sowohl für die Produktion wie auch für den Konsum. Die Globalisierung würde nur enden, wenn Transporte plötzlich teuer würden. Wenn man also den Klimawandel ernst nimmt und fossile Energie hoch besteuert, um die Treibhausgase zu reduzieren. Ein Virus tötet die Globalisierung nicht.
Zumindest ist der Staat nun als Retter wieder gefragt, nachdem es lange Zeit hieß, der Markt regelt alles...
Herrmann: In der Krise hat der Staat die Märkte gerettet, nicht umgekehrt. Als sich abzeichnete, dass Corona auch in Deutschland ausbricht, ist der deutsche Aktienindex Dax in wenigen Tagen um 40 Prozent abgestürzt. Und die Börsenkurse wären noch weiter eingebrochen, wenn nicht klar gewesen wäre, dass der Staat eingreift und die Liquidität der Unternehmen sichert. Ohne diese Rettungsmaßnahmen wären Arbeitslosenraten von 50 Prozent und mehr mühelos denkbar gewesen.
Wird wegen Corona am Sozialstaat gespart?
Auch in der Finanzkrise ab 2007 mussten die Staaten einspringen, als die Banken die Weltwirtschaft an den Abgrund geführt haben. In der Folge wurde vielerorts in den Sozialsystemen gespart. Wiederholt sich das jetzt?
Herrmann: Damals wurde tatsächlich so getan, als sei die Bankenkrise, denn das war ja die Finanzkrise, eine Staatsschuldenkrise, und es geriet ein bisschen in Vergessenheit, was die Banken so alles angestellt haben. Es ist jederzeit möglich, dass auch nach der Corona-Krise wieder gesagt wird, dass die Staatsschulden so hoch seien, dass man leider beim Sozialstaat sparen müsse. Es ist richtig, dass man jetzt die Unternehmen rettet. Aber wenn man am Ende die Kosten dafür bei den Ärmsten ablädt, wäre das eine absolut verheerende Strategie. Wenn die wirtschaftliche Ungleichheit immer stärker ansteigt, wird das politische Versprechen der Demokratie ad absurdum geführt, dass jeder gleich ist und daher eine Stimme hat.
Die Frage nach dem Sozialen in unserer Marktwirtschaft stellt sich in der Corona-Krise mit neuer Wucht. Krankenschwester, Altenpfleger, Polizist – viele Beschäftigte, die plötzlich als systemrelevant gelten, haben vom Boom der vergangenen Jahre nicht besonders profitiert, oder?
Herrmann: Es ist völlig klar, dass etwa Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenheimen viel besser bezahlt werden müssen. Aber noch wichtiger ist, dass dort mehr Menschen arbeiten. Wir haben momentan die absurde Situation, dass 200000 ausgebildete Altenpfleger den Beruf wieder verlassen haben, weil sie den Stress nicht aushalten. Wenn man möchte, dass die Pflege sich verbessert – was dringend nötig ist –, dann braucht man mehr Personal. Das kostet aber Geld.
Und das ist knapp, jetzt erst recht...
Herrmann: Stimmt. Zudem kann man in unserem jetzigen Sozialversicherungssystem nicht mehr einfach die Beiträge erhöhen. Denn das System ist so konstruiert, dass die Belastung ausgerechnet für die Ärmsten am höchsten ist. Es gibt nämlich keine Progression und schon der erste Euro zählt. Gleichzeitig werden die Wohlhabenden geschont, weil es etwa die Beitragsbemessungsgrenze gibt. Wenn man bessere Pflege will, muss man das System umbauen. Richtig wäre eine Bürgerversicherung: Alle zahlen in eine Kasse ein, es gibt keine Privatkassen mehr und jeder zahlt nach seinem Einkommen. So eine Grundsatzreform ist aber unwahrscheinlich. Die Alternative wäre, den Steueranteil im System zu erhöhen. Eine Vermögenssteuer würde etwa zehn Milliarden Euro einbringen. Dieses Geld könnte man zielgerichtet einsetzen, um die Pflege zu verbessern. Das hätte eine ganz hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.
Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“.
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