Im Maschinenraum der Seifert Kunststoff GmbH in Neu-Ulm fliegen keine Funken, kein Schmutz haftet auf den Fräs- und Drehmaschinen. Der Boden sieht aus wie gebohnert. Abdul Latifi trägt einen Filzpullover und eine lockere Arbeitshose. Keine Schutzbrille, Ohrenschützer oder Handschuhe. Der 22-Jährige macht eine Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker bei dem Kunststoffunternehmen.
Aufgewachsen ist Latifi in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Dort arbeitete er bei einem Ableger des deutschen Scheibenreparaturunternehmens Carglass. Eigentlich wollte er Kfz-Mechatroniker werden. Doch sein Chef riet ihm und den anderen Angestellten, das Land zu verlassen. Denn Terroranschläge prägten den Alltag – ein geregeltes Leben war unmöglich. Vor vier Jahre ist er geflüchtet. Über Pakistan kam er in die Türkei, wo er acht Monate in einer Textilfabrik arbeitete. Dann ging es weiter über Bulgarien nach Deutschland. Tausende Euro zahlte Latifi für Schleuser.
Am Anfang lernte er jede Nacht für die Schule
Seit vier Jahren ist er nun hier – von Anfang an versuchte er fast verbissen, Deutsch zu lernen. Zwei pensionierte Lehrerinnen halfen ihm – gaben Sprach- und Matheunterricht. Vier bis fünf Stunden ackerte er jede Nacht, um Klassenarbeiten zu bestehen, bis er schließlich den qualifizierenden Hauptschulabschluss schaffte. Die Industrie- und Handelskammer in Augsburg bot ihm dann in drei technischen Berufen Praktika an. Bei dem Kunststoffunternehmen Seifert gefiel es ihm am besten. Also bewarb er sich um eine Lehrstelle. „Der Hauptgrund, warum er genommen wurde, war, dass er die Schule besucht und erkannt hat, wie wichtig es ist, die Sprache zu lernen“, sagt Seifert-Geschäftsführer Gerhard Sixl.
Doch dann wurde Latifis Asylantrag abgelehnt. Damit ist sein Aufenthaltsstatus ungeklärt und er im Land nur geduldet. Das Unternehmen steht deshalb ständig in Kontakt mit Einwanderungsbehörden und verhandelt mit dem Landratsamt. Für Sixl ist das kein Problem.
Für Latifi war es eine Belastung. Ständig musste er bangen, ob er in Deutschland bleiben kann. Dann hörte er die Berichte in den Medien über den Fall des afghanischen Berufsschülers, der in Nürnberg vor den Augen seiner Mitschüler abgeholt und abgeschoben wurde. Das beschäftigte ihn – und seinen Arbeitgeber. „Solange er die Ausbildung macht, kann er bleiben“, sagt Sixl. Das ist dank der sogenannten 3+2-Regelung sicher. Sie erlaubt es Azubis, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, ihre Lehre in Deutschland zu machen und danach zwei Jahre auch hier zu arbeiten.
Soziale Verantwortung ist seinem Chef wichtig
Und was treibt den Unternehmer Seifert an? Soziale Verantwortung ist dem Geschäftsführer wichtig. „Wir geben jungen Menschen gerne eine Chance. Das ist ein Leitbild der Firma“, sagt er. Von durchgestylten Lebensläufen hält er wenig. Damit habe die Firma immer gute Erfahrungen gemacht. Damit Latifi mitkommt, hat er einen Betreuer, der sich um ihn kümmert. „Wir erklären ihm alles zwei- oder dreimal, wenn er möchte“, sagt Betreuer Florian Pischl. Dazu kommt noch etwas anderes: Der Wettbewerb um Nachwuchs ist hart. „Es gibt in der Region größere Firmen wie Bosch oder Ratiopharm“ sagt Sixl. Ein weiteres Problem für das Kunststoffunternehmen: Die Ausbildung zum Zerspanungsmechaniker ist eigentlich eine reine Metallausbildung. „99 Prozent der Auszubildenden gehen in die Metallbranche,“ sagt Pischl. Doch die Firma Seifert ist ein Kunststoffunternehmen – eines von 150 hoch spezialisierten Kunststoffverarbeitern in Deutschland. Etwa 1000 Kunststoffteile, gedreht und gefräst aus Stäben, Rohren und Blöcken, produziert der mittelständische Betrieb täglich für die Medizintechnik, Food-Branche oder Wasseraufbereitung. „Kunststoff ist günstiger und leichter im Gewicht als Metall“, erklärt Sixl.
Ein Mitarbeiter legt einen Rohling, einen Quader aus Kunststoff in die Fräsmaschine. Auf einer Drehscheibe in der Maschine sitzen unterschiedliche Bohraufsätze, die den Kunststoff bearbeiten. Die Späne fliegen hinter der dicken Scheibe. Drei Minuten dauert es, bis das Maschinenteil gefräst ist. „Früher waren alle noch ölverschmiert und liefen im Blaumann herum. Heute sind das alles Computerspezialisten“, sagt der Geschäftsführer und deutet auf seine Mitarbeiter. Vereinzelt schleifen sie millimeterdünne Reste von Kunststoffbauteilen oder vermessen das gefräste Resultat mit einem Messschieber. Den Rest erledigen Maschinen. „Die Technik hat einen großen Sprung gemacht“, sagt Sixl. Wie wichtig die Digitalisierung inzwischen ist, zeigen auch die drei Programmierplätze, die es in dem Unternehmen gibt. Dort werden die Konstruktionszeichnungen in die Maschinen eingespeist. „Das meiste wird aber an der Maschine eingestellt“, sagt Sixl. In näherer Zukunft sollen die Plätze dauerhaft besetzt und die Daten direkt an die Maschine geschickt werden können.
Die Zukunft nach der Ausbildung ist ungewiss
Seit eineinhalb Jahren wohnt Latifi nun in Neu-Ulm in einer Wohngemeinschaft. „Da ist es schön ruhig“, sagt er. Die Furcht vor einer plötzlichen Abschiebung schwindet langsam. „Er realisiert, dass er erst einmal bleiben kann“, sagt Sixl. Die praktische Zwischenprüfung hat er als einer der besten seiner Klasse absolviert. Seit einem Monat lernt er in der Berufsschule auch programmieren. Wie genau es nach seiner Ausbildung weitergeht, weiß Latifi nicht. Natürlich würde er sich wünschen weiter bei der Firma Seifert bleiben zu können. Doch vor allem treibt ihn die Sehnsucht um, sich endlich „ein Leben aufbauen“ zu können, sagt er.