Wenn es Abend wird in Istanbul, beginnen die Schornsteine der Mietshäuser zu qualmen. Brandgeruch breitet sich aus. Zwar verfügt die türkische Wirtschaftsmetropole über ein weit verzweigtes Erdgasnetz, an das viele Zentralheizungen angeschlossen sind. Aber Gas ist so teuer, dass jetzt immer mehr Haushalte wieder die alten Öfen mit Kohlen und Brennholz anheizen. Die Smogwolke, die sich deswegen allabendlich über den türkischen Städten ausbreitet, ist ein Sinnbild der düsteren Wirtschaftslage.
Die türkische Lira hat in diesem Jahr gegenüber dem Euro bereits 30 Prozent ihres Werts verloren. Die Inflation stieg seit Jahresbeginn von 15 auf 20 Prozent. Viele Lebensmittel verteuerten sich um 30 Prozent und mehr. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwölf Prozent. In der Bevölkerung wächst der Unmut. In einer Umfrage des Instituts Akam von Anfang Oktober lag erstmals seit 19 Jahren die bürgerlich-sozialdemokratische Oppositionspartei CHP mit 30,1 Prozent vor Erdogans islamisch-konservativer AKP, die nur noch auf 28,4 Prozent kam. Auch Erdogans persönliche Zustimmungswerte sind auf Talfahrt. Fast zwei von drei Befragten sagen, Erdogan mache in der Wirtschaftspolitik einen schlechten Job.
Die Bürger bekommen die Kehrseite von Erdogans Geldpolitik zu spüren
Die Krise spitzt sich zu, seit die türkische Notenbank vergangenen Donnerstag auf Weisung Erdogans die Leitzinsen auf 15 Prozent senkte. Sie liegen nun weit unter der Inflationsrate. Ausländische Investoren fliehen deshalb aus der Währung. Die Zinssenkung ließ den Lira-Kurs allein vergangene Woche um elf Prozent einbrechen. Erdogan hat in den vergangenen Jahren die Geldpolitik immer stärker an sich gezogen. Mit niedrigen Zinsen versucht er, das Wirtschaftswachstum rechtzeitig vor den spätestens 2023 fälligen Parlaments- und Präsidentenwahlen anzukurbeln.
Aber die Bürger bekommen die Kehrseite von Erdogans Geldpolitik zu spüren: Der Wertverlust der Lira verteuert Importe und heizt so die Inflation immer weiter an. Wer vom Wochenlohn etwas übrig hat, tauscht seine Lira rasch in Dollar oder Euro, um der Teuerung ein Schnippchen zu schlagen. Damit wächst der Abwertungsdruck auf die türkische Lira zusätzlich – ein Teufelskreis. Aus Angst vor drohenden Kapitalkontrollen deponieren viele Menschen ihre Devisen nicht bei den Banken, sondern kaufen Gold oder horten die Banknoten in ihren Wohnungen. Dadurch wird dem Wirtschaftskreislauf Liquidität entzogen.
Während unabhängige Ökonomen bereits eine Währungskrise heraufziehen sehen, wettert Erdogan gegen „Preiswucher“, redet von einer „Zinsplage“ und prangert „Spekulanten“ an. Seinen Anhängern erzählt er: „Die Regale in Europa und den USA sind leer, während wir es, gelobt sei Allah, mit Fülle und Üppigkeit zu tun haben“. Demonstrativ besuchte Erdogan in Begleitung eines Kamerateams einen Supermarkt und packte seinen Einkaufswagen voll.
Kritiker seiner Geldpolitik lässt der Staatschef unnachsichtig verfolgen
Aber immer weniger türkische Hausmänner und Hausfrauen können sich so ein Shopping leisten. Der Mindestlohn, von dem 42 Prozent der türkischen Arbeiter leben müssen, beträgt netto umgerechnet 223 Euro. 2016 waren es noch 388 Euro. Die Zentralbank deutete zwar vergangene Woche an, im Dezember werde es wohl keine weitere Zinssenkung geben. Das verhütete einen noch stärkeren Absturz der Lira. Aber ob sich die Währungshüter damit durchsetzen können, ist fraglich. Erdogan jedenfalls bekräftigt, er werde „bis zum Ende“ gegen hohe Zinsen kämpfen.
Kritiker seiner Geldpolitik lässt der Staatschef unnachsichtig verfolgen. In Istanbul stehen jetzt 38 Angeklagte wegen „Provokation“ vor Gericht, weil sie 2018 auf Twitter einen Währungsverfall von damals sieben Lira zum Dollar auf zehn Lira vorhersagten.
Das allerdings war noch eine optimistische Prognose. Denn am vergangenen Freitag mussten die Türken für einen Dollar schon 11,23 Lira bezahlen.