Beim ersten Mal, sagt Alexander, habe er sich „furchtbar angestellt“. Vermummt wie ein Einbrecher, ist er nachts auf dem Parkplatz des Supermarkts gestanden. Bei jeder Polizeisirene, die ein paar Straßen weiter zu hören war, zuckte er zusammen. Dann hat er sich getraut. Er hat eine Mülltonne geöffnet und geschaut, ob etwas Essbares darin liegt. Und er wurde fündig. Heute, vier Monate später, ist der Gang zum Müllcontainer für den 40-Jährigen Routine.
Es ist kurz nach zehn Uhr abends. Wie fast jede Nacht steigt Alexander, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, auf sein Fahrrad. Er ist auf dem Weg zu Supermärkten im Münchner Norden. Die Straßen sind leer, die Fenster dunkel. Zielstrebig geht er über den Parkplatz zur Laderampe, wo die Tonnen stehen. Er stellt den Rucksack auf den Boden, holt die Taschenlampe heraus und öffnet den Deckel. Die Tonne ist halb voll. Schimmlige Champignons. Drei Paprika, originalverpackt. Eine Packung Äpfel, sechs Stück, einer mit einem braunen Fleck. Gegrillte Putenbruststreifen, sechs Packungen, vor fünf Tagen abgelaufen. Ein Kräuterbaguette, noch zwei Wochen haltbar. „So etwas“, sagt Alexander und schüttelt dabei den Kopf, „nennt man bei uns in Deutschland Müll.“
Bis vor ein paar Jahren hat er als IT-Manager gearbeitet
Alexander lebt von dem, was Supermärkte aussortieren. Nicht, weil er sich kein Essen leisten kann. Bis vor ein paar Jahren hat er als IT-Manager gearbeitet, dann kam das Burnout, das Gefühl des Ausgebranntseins, jetzt lebt er bewusster. Weil Alexander gegen die Lebensmittelverschwendung protestieren will, geht er „containern“. Andere, die ihr Essen auf diese Weise besorgen, sprechen vom „Mülltauchen“. Der Mann mag das Wort nicht. „Was ich aus den Tonnen hole, lag vor ein paar Stunden noch im Regal. Warum soll es Müll sein?“
Ein Film hat Alexander die Augen geöffnet – dafür, wie achtlos manche Konsumenten Nahrungsmittel in den Müll werfen. Die Dokumentation, die Alexander so beeindruckt hat, stammt von Valentin Thurn. In seinem neuen Kinofilm „Taste the Waste“ („Probier den Abfall“) und dem Buch „Die Essensvernichter“ offenbart der Kölner Filmemacher, welche Ausmaße die Nahrungsmittelverschwendung angenommen hat. Mehr als die Hälfte der produzierten Lebensmittel landet im Müll, die Welthungerhilfe geht für Deutschland von bis zu 20 Millionen Tonnen im Jahr aus.
Fast jeder zweite Kopfsalat wird bei der Ernte aussortiert
Thurns Recherchen legen nahe, dass ein Großteil der Nahrungsmittel bereits aussortiert wird, bevor er überhaupt auf den Tellern heimischer Verbraucher landet. Jeder zweite Kopfsalat werde bei der Ernte entsorgt und auch fast jede zweite Kartoffel – weil sie zu klein ist, zu unförmig oder einen Riss hat. „Der Kunde will das makellose Produkt“, sagt Thurn.
Das Datum auf den Verpackungen ist für Alexander, den Mann, der aus dem Müll lebt, ohnehin „ein Schmarrn“. „Die Leute müssten verstehen, dass das kein Verfallsdatum ist. Meistens sind die Sachen noch viel länger haltbar“, meint er. Sahne, die wenige Tage abgelaufen ist, nimmt er genauso mit wie Joghurt, Wurst und Fleisch. Alexander verlässt sich auf seine Nase. Nur Fisch und Hackfleisch lässt er liegen. Brot oder Semmeln holt sich Alexander an seiner „Brotstation“, wie er einen Supermarkt nennt. Fünf Kisten stehen dort, ordentlich aufeinandergestapelt. In den beiden unteren liegen Brotlaibe, die Schachteln darüber sind prall gefüllt mit Semmeln, Brezen und Gebäck. Er nimmt sich eine Laugenstange und beißt hinein. Was mit den Backwaren passiert, weiß Alexander nicht. Vielleicht geht es an karitative Einrichtungen, vielleicht an eine Biogasanlage. Der Heizwert von Brot sei hoch, häufig werde es zu Pellets verarbeitet. „Es ist doch traurig, dass es heute kein Brot von gestern mehr gibt“, sagt er.
Für dieses System des Überflusses müsse letztlich der Kunde aufkommen, argumentiert der grüne Verbraucherschutzminister Johannes Remmel aus Nordrhein-Westfalen. Das Brot, das am Abend nicht mehr verkauft wird, „ist in die Kalkulation eingerechnet, ebenso wie die Palette Joghurt, die schon vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums ausgemustert wird“. Der Politiker fordert den Handel auf, kleinere Packungsgrößen anzubieten, schließlich gebe es immer mehr Singlehaushalte.
Lebensmittelbranche: Es wird nur wenig Essen vernichtet
Wie viele Lebensmittel wirklich in den Tonnen von Supermärkten landen, ist umstritten. Remmel geht davon aus, dass rund 20 Prozent der insgesamt weggeworfenen Nahrungsmittel dem Handel zugeordnet werden können. Belastbarere Zahlen sollen im nächsten Jahr vorliegen. In einer nationalen „Wegwerfstudie“ untersucht das Bundesverbraucherministerium, wie viel Essen der Verbraucher und wie viel der Handel entsorgt.
Die rund 41000 Lebensmittelhändler in Deutschland betonen, dass die Branche nur sehr wenig Essen vernichte. In einer Studie hat der Bundesverband des Deutschen Lebensmittelhandels errechnet, dass gut ein Prozent aller Nahrungsmittel, die im Laden stehen, verloren geht – entweder, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen, die Verpackung beschädigt ist oder sich die Ware nicht mehr verkaufen lässt. Bei Backwaren liege die Quote bei gut zehn, bei Obst und Gemüse bei fünf Prozent. Auf das Jahr gerechnet entsorge der Handel damit 310000 Tonnen Essen – deutlich weniger als das, was Verbraucher wegwerfen. Christian Böttcher betont für den Handel, dass einige Geschäfte Waren, die bald ablaufen, günstiger verkaufen.
Bei der Edeka-Gruppe, der Nummer eins unter den deutschen Lebensmittelhändlern, heißt es, schon aus wirtschaftlichen Gründen sei das Interesse groß, „durch eine gute Disposition“ die Menge der aussortierten Lebensmittel so gering wie möglich zu halten. Bevor Nahrungsmittel weggeworfen werden, nutze man andere Möglichkeiten, diese „einer Verwendung zuzuführen“.
Hans Stecker ist froh, wenn er Sätze wie diese hört. Manche Marktleiter musste der Vorsitzende der Augsburger Tafel lange überreden, bis er bei ihnen Lebensmittel abholen durfte. Andere stellen freiwillig das bereit, was sie ihren Kunden nicht mehr zum Kauf anbieten. Mit dem Essen, das sein Team bei 180 Händlern abholt, werden jede Woche 5000 Menschen versorgt. Wie die Mutter, die sich Tomaten, Lauch, Joghurt, Nudeln, Käse und Brot einpacken lässt. Die Frau hinter der Theke hat ihr noch einen Nusszopf mitgegeben. „Was zum Kaffee“, sagt sie. Die Mutter, die jede Woche kommt, hat ausgerechnet, dass sie sich damit 70 Euro im Monat spart. Geld, das die 42-Jährige nutzen kann, um ihren Kindern etwa bessere Schuhe zu kaufen.
Für Hans Stecker ist wichtig, dass Menschen nicht das Gefühl haben, bei der Augsburger Tafel zu betteln. Wer zu dieser Einrichtung kommt, könne offen sagen, welches Essen er haben will und welches nicht. „Es bringt ja nichts, wenn die Leute es daheim wegwerfen“, sagt er. Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, gibt es bei der Tafel nicht. Stecker räumt ein, dass die Organisation von den prall gefüllten Regalen vieler Supermärkte profitiert. Er sagt aber: „Lebensmittel sind zu kostbar, um weggeschmissen zu werden.“
Alexander, der Mann, der sein Essen aus dem Müll fischt, hat in München eine Packung Salat gefunden. „Da ist nicht mal ein Blatt braun.“ Der Brokkoli daneben hat nur eine gelbe Stelle. „Das ist doch pervers“, sagt er. Erst gestern hat er sich einen Schweinsbraten mit Kartoffeln zubereitet, davor gab es Gulaschsuppe. Alles aus dem Müll. Aus den fünf Packungen Spargel, die er in seinen Rucksack steckt, macht er sich eine Suppe. „Die kann man auch einfrieren“, sagt Alexander. „Dann hat man länger was davon.“