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Kommentar: Wirtschaftsboom und Jobabbau: Wie passt das zusammen?

Kommentar

Wirtschaftsboom und Jobabbau: Wie passt das zusammen?

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    Siemens-Mitarbeiter demonstrieren in Offenbach.
    Siemens-Mitarbeiter demonstrieren in Offenbach. Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

    Wer zuletzt Wirtschaftsnachrichten gelesen hat, mag die Welt nicht mehr verstehen. Da ist die Zahl der Menschen ohne Job in Deutschland mit rund 2,4 Millionen auf den niedrigsten Wert seit 1991 gefallen. In Bayern herrscht ein regelrechter Beschäftigungs-Boom. Und doch machen gerade Unternehmen aus dem Freistaat negative Schlagzeilen. So soll das frühere Augsburger Osram-Lampenwerk mit seinen 650 Mitarbeitern geschlossen werden. Siemens will 6900 Jobs streichen, etwa die Hälfte davon in Deutschland.

    Wie passt das zusammen, die Jubel-Meldungen vom Arbeitsmarkt und immer neue Stellenverluste? Zunächst geben die offiziellen Arbeitslosenzahlen ein unzureichendes Bild der Realität wieder. Denn in Wahrheit sind in Deutschland fast 3,4 Millionen Menschen unterbeschäftigt, stecken also etwa in einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme. Doch auch wenn die wahre Arbeitslosigkeit höher liegt, fällt die deutsche Beschäftigungsbilanz im europaweiten Vergleich gut aus.

    Die Siemens-Sünde in Görlitz

    Dennoch bleibt die Frage: Warum baut zum Beispiel Siemens in Anbetracht des Aufschwungs so viele Stellen ab? Und das trotz eines Milliardengewinns und trotz eines fetten Börsenkurses. Der Konzern macht sogar in einer strukturschwachen ostdeutschen Region wie Görlitz einen Standort dicht, eine Sünde, schließlich hat die AfD dort bei der Bundestagswahl 32,9 Prozent der Zweitstimmen geholt.

    Die Görlitz-Entscheidung des Riesen ist politisch betrachtet brandgefährlich, weil die Populisten dadurch sicher weiteren Zulauf bekommen. Rein betriebswirtschaftlich hat der Beschluss aber eine gewisse Logik, werden doch in Görlitz Dampfturbinen produziert, die nicht mehr so stark nachgefragt werden. Siemens steht dessen ungeachtet wegen der unsensiblen Hauruck-Aktion im Osten als Arbeitsplatzvernichter am Pranger. In der Summe ist der Konzern jedoch ein Job-Schaffer. So hat Siemens im letzten Geschäftsjahr weltweit fast 39.000 Menschen eingestellt, davon etwa 5200 in Deutschland. Hierzulande stieg die Zahl der Beschäftigten in der Summe um 2000 auf 115.000. Insgesamt stimmt die Arbeitsplatzbilanz des Elektro-Riesen also. Siemens ist nicht das personifizierte Böse, sondern ein permanent im Umbruch befindlicher innovativer Konzern, der auf Marktveränderungen reagieren muss und wie andere Firmen durch die Digitalisierung durchgeschüttelt wird. So fallen jetzt im Kraftwerksbau Stellen weg, dafür ergeben sich neue Beschäftigungsmöglichkeiten. In Cuxhaven etwa baut Siemens eine Windkraftfabrik, in der bis zu 1000 Menschen Arbeit finden.

    Wie Siemens-Mitarbeiter Opfer werden 

    Altes vergeht, Neues entsteht – ein oft brutaler Prozess, der schon 1942 treffend vom österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter als „schöpferische Zerstörung“ beschrieben wurde. Die Tragödie des dem Kapitalismus auch in seiner sanften Form der Sozialen Marktwirtschaft nicht auszutreibenden Effekts ist, dass oft ältere Menschen wie bei Siemens Opfer der Entwicklung werden. Wer als Facharbeiter Turbinen herstellt, lässt sich nicht zum heiß begehrten Software-Ingenieur umschulen. Wirtschaftsboom und Stellenstreichungen stellen daher nur einen vermeintlichen Widerspruch dar. Doch das sollten Manager viel besser erklären.

    Denn die globale Wirtschaft hat eine Komplexität erreicht, die vermittelt werden muss. Wie können Manager also klüger agieren? Sie müssen Zuspitzungen vermeiden. Ein reicher Konzern wie Siemens braucht einen Plan „B“, wenn er ein Werk schließt. Im gleichen Atemzug muss zur Beruhigung ein Käufer für die Fabrik präsentiert werden.

    Wenn Menschen das Prinzip der schöpferischen Zerstörung besser akzeptieren sollen, hilft ihnen eine Perspektive für die Zukunft. 

    Die Siemens-Sparten Kraftwerke und Prozessindustrie

    Der Elektrokonzern Siemens will weltweit 6900 Stellen streichen - die Hälfte davon in Deutschland.

    Betroffen sind zwei Sparten: Kraftwerke sowie Prozessindustrie/Antriebe.

    Letzteres beinhaltet die Fertigung großer Elektromotoren und -generatoren für den Bergbau.

    Die Kraftwerkssparte "Power and Gas" gehört zu den umsatzträchtigsten Geschäftsfeldern von Siemens und soll nun den Löwenanteil der Stellenstreichungen tragen. 6100 Jobs sollen hier wegfallen.

    Im Schlussquartal des abgelaufenen Geschäftsjahres steuerte die Sparte 3,65 Milliarden Euro zum Konzernumsatz von 22,3 Milliarden Euro bei.

    Weltweit arbeiteten dort Ende September 46.800 Beschäftigte, in Deutschland waren es 16.100.

    Die Zahlen an deutschen Standorten mit über 200 Mitarbeitern verteilten sich gerundet wie folgt: Mülheim 4500, Berlin 3700, Erlangen 2800, Duisburg 1800, Görlitz 700, Offenbach 700, Erfurt 600, Leipzig 200.

    Im Geschäftsfeld Prozessindustrie und Antriebe beschäftigte Siemens zum Stichtag Ende September weltweit rund 44.800 Leute, davon 15.400 in Deutschland.

    Dieses Geschäft schwächelt seit einiger Zeit. Im Schlussquartal 2017 konnte Siemens erste Erfolge jüngster Einsparungen erzielen: Der Bereich kehrte im Vergleich zum Vorjahr wieder in die schwarzen Zahlen zurück. Mit 2,39 Milliarden Euro war der Umsatz im Schlussquartal zwei Prozent geringer als im Vorjahreszeitraum.

    Die Beschäftigungszahlen an deutschen Standorten mit über 200 Mitarbeitern verteilten sich gerundet wie folgt: Nürnberg 3400, Karlsruhe 2600, Erlangen 1700, Bocholt 1500, Voerde 1400, Ruhstorf 1000, Berlin 800, Penig 600.

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