In Deutschland gibt es leider keine Kultur, Gesetze nach etwa fünf Jahren auf den Prüfstand zu stellen. Denn dann müsste man hinterfragen, ob das, was mit der Regelung – oftmals im guten Willen – bezweckt wurde, auch wirklich eingetreten ist.
Gäbe es eine solche Praxis in der Politik, das eigene Arbeiten kritisch zu beurteilen, müssten manche Gesetze dorthin befördert werden, wo die Opposition sie immer schon gerne gesehen hätte: in den Papierkorb. Weil Politik und Selbstkritik aber keine sich innig liebenden Geschwister, sondern wie Feuer und Wasser sind, schaffen manche Verordnungen Missstände nicht ab, sondern befördern sie sogar noch. Ein besonders abschreckendes Beispiel dafür ist das 2015 auch auf Betreiben der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles eingeführte Tarifeinheitsgesetz.
Eine Gewerkschaft mit hohem Erpressungspotenzial
Die Regelung strebt – vereinfacht gesagt – an, dass in einem Betrieb mit mehreren Gewerkschaften diejenige Arbeitnehmer-Organisation mit den meisten Mitgliedern mit Tarifverträgen zum Zuge kommt. Auch wenn Nahles und andere Politikerinnen sowie Politiker das nie zugegeben haben, handelt es sich bei der Regelung um eine „Lex Weselsky“, also eine Bestimmung, mit der die auch in diesem Jahr ungebremste Streiklust der von dem konfliktfreudigen Mann angeführten Lokführer-Gewerkschaft GDL aufs Abstellgleis geschoben werden sollte. Denn in der überwiegenden Zahl der vielen Bahn-Betriebe verfügt die deutlich größere und zum DGB zählende Konkurrenz-Organisation EVG über erheblich mehr Mitglieder. Politikerinnen und Politiker glaubten also trotz aller warnenden Stimmen von praktischer wie wissenschaftlicher Seite, sie könnten mit einem juristischen Fahrplanwechsel verhindern, dass eine Gruppe bei der Bahn mit hohem Erpressungspotenzial Teile der Republik streikend lahmlegt.
In Wahlkampfzeiten wie diesen wirken sich permanente Zugausfälle nicht unbedingt aufbauend auf die Stimmungslage von Wählerinnen und Wählern aus. Dabei kam es, wie es so oft kommt: Das politische Spitzenpersonal verdrängte in der gesetzgeberischen Gestaltungseuphorie kritische Anmerkungen von anerkannten Experten wie dem Arbeitsrechtler Ulrich Preis. Er führte an, Deutschland sei eines der streikärmsten Länder der Welt. Um Einfluss gegenüber anderen Gewerkschaften buhlenden Truppen wie die GDL bildeten eher eine Ausnahmeerscheinung.
Der Spezialist prophezeite deshalb, dass die Regelung der Ex-Gewerkschaftsmitarbeiterin Nahles keinen einzigen Streik verhindern werde, sondern im Gegenteil den Kampf zwischen den Gewerkschaften um die Vorherrschaft in bestimmten Bereichen eines Konzerns wie der Bahn noch anheizen würde. Preis hat mit seiner Einschätzung recht behalten, auch mit der nahe liegenden Vorhersage, dass kleinere Gewerkschaften wie die GDL durch das Tarifeinheitsgesetz nur umso heftiger, also mit maximalen Forderungen um Mitglieder kämpfen. Genau das macht Weselsky jetzt. Er lässt sich nicht zähmen und befürchtet, die mächtigere EVG-Gewerkschaft werde nun den Großteil des Bahnkuchens für sich und ihre Tarifverträge reklamieren.
Wenn GDL-Chef Weselsky in die Enge getrieben wird
Weselsky reagiert dann am heftigsten, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Deshalb befindet sich der GDL-Boss seit Jahresanfang in einer Art Existenzkampf. Er kann der Versuchung nicht widerstehen, im Reich der EVG zu wildern und der Gewerkschaft Sympathisantinnen und Sympathisanten abspenstig zu machen. Bisher ist ihm das – zumindest nach Darstellung der viel größeren Organisation – nur mit bescheidenem Erfolg gelungen. Von etwa 400 Überläuferinnen und Überläufern zur GDL ist die Rede. Stimmen die Zahlen, würde das wiederum erklären, warum sich Weselsky wie ein Mann, der mit dem Rücken zur Wand steht, verhält. Er muss also unbedingt der Bahn AG mit Streiks einen möglichst hohen Abschluss abringen, damit die Muskeln spielen lassen, um doch noch EVG-Beschäftigte in größerer Zahl zur Fahnenflucht zu überreden. Dabei scheint das Zerren um Mitglieder völlig außer Kontrolle geraten zu sein. Denn in einigen Betriebsteilen wirkt die Stimmung zwischen Bahn-Beschäftigten mit unterschiedlichem Gewerkschafsbuch vergiftet.
Wenn es, wie die EVG behauptet, wirklich Morddrohungen gibt, muss im Zug des Hasses rasch die Notbremse gezogen werden. Ein Mittel dazu ist, Druck vom Tarifkessel zu nehmen und die „Lex Weselsky“ – zumal das Gesetz verfassungsrechtlich ohnehin bedenklich wirkt – zu kassieren. Am Ende kann Frieden bei der Bahn nur einkehren, wenn EVG und GDL zu einer Tarifgemeinschaft zusammenfinden, wie das im Öffentlichen Dienst zwischen Verdi und Beamtenbund durchaus erfolgreich funktioniert. Dabei darf man sich keine Illusionen machen: Kooperation statt Konfrontation wird es bei den Bahn-Gewerkschaften erst in der Nach-Weselsky-Ära geben. Das kann noch eine Weile dauern. Der leicht reizbare GDL-Chef ist 62.