In der deutschen Autoindustrie ist nichts mehr, wie es war. Das lässt sich exemplarisch am Volkswagen-Konzern ablesen. Der ehemalige Audi-Chef Stadler muss sich im Herbst einem Strafprozess stellen. Noch-Volkswagen-Vorstand Diess muss die Führung der Kernmarke VW abgeben. Auf den ersten Blick wirkt die erste Nachricht spektakulärer als die zweite. Ist sie aber nicht. Denn während der Fall Stadler unter dem Aspekt der Aufarbeitung gesehen werden kann, geht der Fall Diess erst richtig los.
Kein zweiter Automanager hat in letzter Zeit gleichzeitig so viel richtig und so viel falsch gemacht wie Diess. Radikaler als seine deutschen Mitbewerber versucht er, den Dampfer Volkswagen auf einen Zukunftskurs zu steuern, bei dem Digitalisierung und Elektrifizierung die wichtigsten Meilensteine sind. Die Realität sieht anders aus. Ausgerechnet ein Softwareproblem bremste den Golf 8 aus. Auch dem Stromer ID.3 drohten Verzögerungen, so dass er zunächst in abgespeckter Form antritt.
Volkswagen zieht Rassismus-Vorwürfe auf sich
Dazu kommen Probleme, die nicht technischer Natur sind. Mit einem missglückten Werbespot zieht Volkswagen – ausgerechnet in diesen Tagen! – Rassismus-Vorwürfe auf sich. Schon dieser Fauxpas wiegt schwer genug. Als unverzeihlich jedoch empfinden Aktionäre und Gewerkschafter in seltener Einigkeit, dass Diess und Co. für Verbrenner keine Kaufprämie herausschlagen konnten. So etwas wäre den mächtigen Autobossen früher nicht passiert, heißt es.
Da ist was dran. Noch nie hat die Politik den Wirtschaftszweig so abblitzen lassen wie im Falle der verwehrten Corona-Extrahilfen. Denn selbst die aufgestockte Elektro-Prämie hilft den deutschen Platzhirschen kaum, haben sie doch wenige förderfähige Autos im Programm. Ist dies also das Ende einer großen Liebe? Lässt die Politik „ihre“ Autoindustrie fallen?
Der Liebesentzug träfe jedenfalls auf ein gesellschaftspolitisch günstiges Klima. Immer mehr Menschen haben das Machogehabe in der PS-Branche satt. Sie rufen stattdessen nach Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Tempolimit; um es mit einem Wort zu sagen: Demut. So steckt eine einstige Siegerbranche plötzlich argumentativ in der Sackgasse.
Haben die Deutschen den technologischen Wandel verschlafen?
Wie konnte es so weit kommen? Vor allem die Kritiker sind um Erklärungen nicht verlegen. Fast alle laufen allerdings auf das Schema „selber schuld“ hinaus. Die Deutschen hätten den technologischen Wandel verschlafen, sich unter kräftigem Zutun der Politik auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Doch so einfach ist es nicht. BMW brachte mit dem i3 ein frühes, bis heute konkurrenzfähiges Elektroauto auf die Straße. Eine erste autonome Langstreckenfahrt gelang Mercedes mit dem Forschungsfahrzeug „Bertha Benz“. Audi gilt als Pionier des Hybridantriebs. Hätte all die Innovationen nur jemand gekauft!
Und das Verhältnis zur Politik? Dürfte zum Beispiel zwischen einem Konzern wie der Peugeot-Mutter PSA und der französischen Regierung nicht weniger innig sein. Durch Aufklärungseifer im Diesel-Skandal fielen andere Länder kaum auf. Sie schützen ihre Hersteller lieber, als sie zu gängeln.
Mehr als 800.000 Menschen sind in der Autobranche beschäftigt
Die hiesige Autoindustrie dagegen wird für ihre Verfehlungen hart in die Verantwortung genommen. Das ist schon o.k. so. Für Schadenfreude oder gar Bestrafungsfantasien gibt es indes keinen Grund. Ohne die Schlüsselbranche Nummer Eins stünde das Land ganz schlecht da. Mehr als 800.000 Menschen sind direkt in den Betrieben beschäftigt; dazu addieren sich zig Arbeitsplätze in der Peripherie und bei den Zulieferern. Diese Leistung verdient auch gesellschaftliche Loyalität. Deutsche Autos finanzieren zu einem erheblichen Teil deutschen Wohlstand. Das bitte nicht vergessen.
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