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Kommentar: Deutschland sollte wissen, was es an seiner Autoindustrie hat

Kommentar

Deutschland sollte wissen, was es an seiner Autoindustrie hat

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    Bei Audi in Ingolstadt fand am Mittwoch eine Razzia statt.
    Bei Audi in Ingolstadt fand am Mittwoch eine Razzia statt. Foto: Christof Stache, AFP

    Wer mit seinem Wagen ins Schleudern kommt, sollte eines vermeiden: panisches Gegenlenken. Das macht alles noch viel schlimmer. Im übertragenen Sinne hilft etwas Besonnenheit auch in der Reaktion auf den schwarzen Tag bei Audi (mehr dazu lesen Sie).

    Der Abgasskandal schwelt seit eineinhalb Jahren, die Ermittlungen laufen nicht erst seit gestern. Wenn sich ein Verdacht erhärtet, ordnet der Staatsanwalt Durchsuchungen an. Das kann er nicht nur, das muss er sogar tun. Insofern ist die Razzia, obschon sie in seltsamer zeitlicher Nähe zur Audi-Pressekonferenz stattfand, ein normaler rechtsstaatlicher Vorgang.

    Derzeit gehen die Behörden „nur“ Vorwürfen nach, die mit Verkäufen in den USA zu tun haben. In Deutschland hat das Kraftfahrtbundesamt bei Audi-Modellen schlichtweg keine Hinweise auf eine unzulässige Manipulation von Abgaswerten gefunden. Es bleibt also abzuwarten, was die Staatsanwaltschaft wirklich ausgräbt und welche Folgen sich ergeben – oder auch nicht. Audi hat, was bleibt dem Unternehmen anderes übrig, volle Kooperation zugesagt. Dabei gäbe es andere wichtige Aufgaben. Kurzfristige wie das schwächelnde China-Geschäft, langfristige wie den Start ins Elektro-Zeitalter.

    Razzia bei Audi: Nichts zählt mehr als das Image

    Am Ende könnte der größte Effekt dieser Durchsuchung ein eher symbolischer sein – und zwar kein guter. In der Glitzerwelt der Premium-Automobile zählt nichts mehr als das Image. In Amerika ist es bereits hinlänglich „gelungen“, Volkswagen im Ansehen zu demontieren. Dort sind genügend protektionistische Kräfte am Werk, denen die Stärke der deutschen Autoindustrie ein Dorn im Auge ist.

    Deutschland sollte nicht den Fehler machen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Anders als etwa die USA oder Frankreich, denen die heimischen Industrien heilig sind, neigt ausgerechnet unsere „Auto-Nation“ zum Übereifer. Die Forderungen nach Fahrverboten für Dieselfahrzeuge werden immer schriller. Die Grünen wollen gar den Verbrenner als solchen abschaffen. Skeptisch sind allenfalls Parteifreunde in Baden-Württemberg, da sitzt „der Daimler“.

    Die Autoindustrie ist ein Jobmotor. Sie bildet das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. In unserer Region hat sie gerade dank Audi eine überragende Bedeutung. Mit der Reputation dieser Schlüsselbranche spielt man nicht.

    Manager haben sich vor allem moralisch schuldig gemacht

    In Deutschland gilt die Unschuldsvermutung, und sie gilt sogar für Top-Manager. Noch ist nichts erwiesen. Es gibt aber neben der juristischen eine moralische Verantwortung. Und in deren Sinne hat sich so mancher längst schuldig gemacht. Bis heute lässt der Volkswagen-Konzern den Willen zur schonungslosen Aufklärung vermissen. Es dominiert die Strategie, immer nur das zuzugeben, was sich nicht mehr leugnen lässt. Eine in der Konzernlandschaft einzigartige Clique aus Managern, Gewerkschaftsbossen und Politikern regiert Wolfsburg nach wie vor. Der Klüngel scheint zu einem echten Neuanfang nicht fähig.

    Chronologie der Abgasaffäre bei VW und Audi

    VW steckt tief in der Krise. Der Abgas-Skandal hat Konzernchef Martin Winterkorn den Job gekostet - nun müssen sein Nachfolger Matthias Müller und der neue Aufsichtsratsvorsitzende Hans Dieter Pötsch die Affäre aufklären.

    3. September 2015: Volkswagen räumt gegenüber der US-Umweltbehörde EPA Manipulationen bei Abgastests ein.

    18. September 2015: Die EPA teilt mit, VW habe eine Software eingesetzt, um Test-Messungen des Schadstoffausstoßes künstlich zu drücken.

    22. September 2015: Der Konzern gibt eine Gewinnwarnung heraus und kündigt Milliarden-Rückstellungen an. VW-Chef Martin Winterkorn bittet um Entschuldigung.

    23. September 2015: Rücktritt Winterkorns. «Vor allem bin ich fassungslos, dass Verfehlungen dieser Tragweite im Volkswagen-Konzern möglich waren», erklärt er seinen Schritt.

    25. September 2015: Der VW-Aufsichtsrat tagt. Nach langer Sitzung beruft das Gremium Porsche-Chef Matthias Müller zum neuen Konzernchef und trifft einige weitere Personal- und Strukturentscheidungen.

    28. September 2015: Nach mehreren Strafanzeigen startet die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugsvorwürfen.

    29. September 2015: Volkswagen legt einen Aktionsplan zur Nachbesserung von Dieselwagen mit manipulierter Software vor und will fünf Millionen Fahrzeuge der Kernmarke VW in die Werkstätten holen.

    1. Oktober 2015: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig rudert zurück: Entgegen früheren Angaben führt sie kein formelles Verfahren gegen Winterkorn. Neuer VW-Finanzchef wird nach dem Wechsel von Hans Dieter Pötsch in den Aufsichtsrat der Leiter der Finanzsparte, Frank Witter.

    2. Oktober 2015: Auf speziellen Internetseiten können Kunden von VW und Audi prüfen, ob ihr Wagen die Manipulations-Software verwendet.

    4. Oktober 2015: Laut «Bild am Sonntag» sollen VW-Ingenieure der internen Revision gesagt haben, sie hätten 2008 die Software installiert.

    6. Oktober 2015: Betriebsratschef Bernd Osterloh und Müller sprechen bei einer Betriebsversammlung in Wolfsburg zur Belegschaft. Osterloh betont, bisher gebe es noch keine Konsequenzen für Jobs - laut Müller stellt die Abgas-Affäre aber bereits geplante Investitionen infrage.

    7. Oktober 2015: Erneutes Krisentreffen der VW-Aufseher, Pötsch wird an die Spitze des Kontrollgremiums gewählt. Nach Aussage Müllers in einem «FAZ»-Interview kann der Auto-Rückruf im Januar 2016 beginnen.

    8. Oktober 2015: Razzia bei Volkswagen: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ordnet Durchsuchungen in Wolfsburg und an anderen Orten an. VW-US-Chef Michael Horn muss dem US-Kongress Rede und Antwort stehen.

    9. Oktober 2015: US-Bundesstaat Texas verklagt Volkswagen. VW habe seine Kunden über Jahre hinweg vorsätzlich getäuscht, sagt ein texanischer Staatsanwalt.

    15. Oktober 2015: Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) lehnt die von Volkswagen angebotene freiwillige Reparatur ab. Rund 2,4 Millionen betroffene Fahrzeuge von VW werden zurückgerufen.

    2. November 2015: Auch Porsche und Audi geraten unter Verdacht. Die US-Umweltbehörde prüft die von Audi gebauten und von Porsche verwendeten Dreiliter-Dieselaggregate.

    4. November 2015: VW, Porsche und Audi stoppen in den USA den Verkauf von Fahrzeugen, die mit der umstrittenen Dreiliter-Dieselmaschine ausgerüstet sind.

    12. November 2015: Martin Winterkorn gibt Vorsitz bei Audi auf. Nach dem Rückzug von VW und Porsche legt Winterkorn auch sein Amt bei Audi nieder.

    5. Januar 2016: Die US-Regierung reicht im Abgas-Skandal Klage gegen Volkswagen ein. Das Justizministerium wirft dem Konzern vor, Betrugssoftware eingesetzt und gegen das Luftreinhaltegesetz "Clean Air Act" verstoßen zu haben.

    27. Januar 2016: VW beginnt mit dem Rückruf der betroffenen Fahrzeuge. Zunächst ist der Pick-up Amarok dran. Danach folgen die Passat-Modelle.

    15. März 2016: Knapp 300 Großaktionäre verklagen VW auf Schadensersatz in Höhe von rund drei Milliarden Euro.

    22. April 2016: VW muss den höchsten Verlust in der Geschichte des Unternehmens bekannt geben.

    28. Juni 2016: Entschädigungen in Rekordhöhe: 15 Milliarden Dollar kostet der Abgasskandal VW in den USA allein an Strafen an die Umweltbehörden und Entschädigungen an Autofahrer.

    7. September 2016: Auch der Autozieferer Bosch gerät immer mehr in Kritik. Ohne das Stuttgarter Unternehmen habe Volkswagen die Software nicht anpassen können, berichten Medien.

    23. September 2016: Neue Vorwürfe aus den USA belasten VW-Tochter Audi schwer. Bisher bestritt Audi stets manipuliert zu haben.

    22. November 2016: VW will weltweit 30.000 Jobs abbauen. Allein in Deutschland sollen bis zu 23.000 Jobs wegfallen.

    15. Dezember 2016: Sigmar Gabriel (SPD), Peter Altmaier (CDU) und Barbara Hendricks (SPD) sagen im U-Ausschuss aus, sie hätten erst nach Aufdeckung des Skandals 2015 von verbotenen Praktiken erfahren.

    20. Dezember 2016: Nächste Vergleichszahlung: VW und Audi sollen in Kanada bis zu 1,5 Milliarden Euro an Autokäufer zahlen.

    9. Januar 2017: Amerikanisches FBI nimmt einen VW-Manager wegen des Dieselskandals fest.

    11. Januar 2017: VW und das US-Justizministerium einigen sich zu einem Vergleich. VW muss wegen rund 4,3 Milliarden Dollar zahlen.

    19. Januar 2017: Martin Winterkorn wird im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Diesel-Skandal befragt. Der damalige Vorstandsvorsitzende des VW-Konzerns betont erneut, "nicht frühzeitig und eindeutig über die Messprobleme aufgeklärt" worden zu sein.

    27. Januar 2017: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt jetzt auch gegen den früheren VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn wegen des Verdachts auf Betrug.

    3. Februar 2017: Ferdinand Piëch, der frühere VW-Aufsichtsratschef, belastet Martin Winterkorn. Demnach soll Winterkorn doch schon früher als von ihm eingeräumt vom Abgasbetrug erfahren haben.

    18. Februar 2017: Interne Dokumente belasten Audi-Chef Rupert Stadler. Er soll schon 2007 von der Schummelei zu den Abgaswerten gewusst haben.

    8. März 2017: Kanzlerin Angela Merkel sagt als letzte Zeugin vor dem Untersuchungsausschuss zur Abgasaffäre aus. Sie will von der Affäre erst durch die Medien erfahren haben.

    15. März 2017: Razzia bei Audi: Kurz vor Beginn der Jahrespressekonferenz durchsuchen Fahnder die Konzernzentrale in Ingolstadt.

    Ob oder wie tief Audi-Chef Stadler selbst in die Affäre verstrickt ist, lässt sich zur Stunde nicht sagen. So oder so ist es bemerkenswert, wie lange er sich auf dem Posten des Vorstandsvorsitzenden hält. Stadler hat sich große Verdienste um das Unternehmen erworben. Das allein macht ihn nicht zu einem Mann der Zukunft.

    Die Frage nach der Manager-Verantwortung stellt sich nach der Razzia am Mittwoch drängender denn je. Spitzenleute sind, das lehrt die Erfahrung, juristisch schwer zu fassen. Und wenn, fallen sie weich. So gute Karten haben Arbeiter und Angestellte nicht. Sie löffeln oft genug die Suppe aus, die andere ihnen einbrocken. Das haben die Audianer nicht verdient.

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