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Klimakonferenz: Wie die Industrie das Klima retten will

Klimakonferenz

Wie die Industrie das Klima retten will

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    Nach langen Wasserstoffträumen bauen deutsche Autobauer wie VW inzwischen Batteriezellfabriken auf.
    Nach langen Wasserstoffträumen bauen deutsche Autobauer wie VW inzwischen Batteriezellfabriken auf. Foto: Julian Stratenschulte, dpa

    Wer nach ehrgeizigen Klimaschützern sucht, schaut in deutsche Schulklassenzimmer, fragt bei Umweltverbänden oder vielleicht Wissenschaftlern wie den „Scientists for Future“. Sätze wie „Uns läuft die Zeit davon“, „Die aktuelle Klimapolitik reicht in keinem Sektor aus“, „Politische Grundsatzentscheidungen zur Umsetzung der Klimaziele sind überfällig“ oder „Deutschland steht vor der größten Transformation in der Geschichte der Bundesrepublik“ vermutet man fast überall, aber nicht bei der deutschen Industrie.

    Treibhausgasausstoß muss schnell um 45 Prozent sinken

    Doch all diese Aussagen stammen von Siegfried Russwurm, als Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie – kurz BDI – einer der mächtigsten Cheflobbyisten der Bundesrepublik. Radikale Klimaschützer mögen seine Ausführungen für Lippenbekenntnisse halten. Doch Russwurm legt ein über 300 Seiten dickes Klimaschutzprogramm für den Umbau der deutschen Wirtschaft vor, das es in sich hat. Und an dem sich auch die von den Grünen mitgeprägten Ampel-Koalitionsverhandlungen in den kommenden Wochen erst mal messen werden müssen.

    BDI-Präsident Siegfried Russwurm: Neue Töne in der Klimapolitik
    BDI-Präsident Siegfried Russwurm: Neue Töne in der Klimapolitik Foto: Jörg Carstensen, dpa (Archiv)

    Der BDI-Chef trommelte im März über 150 Experten unter Führung der Unternehmensberatung Boston Consulting zusammen, um binnen gut sechs Monaten einen konkreten Plan zu schmieden, wie Deutschlands Industriestandort tatsächlich die vereinbarten und gesetzlich beschlossenen Klimaziele erreichen soll: Bis zum Jahr 2030 soll Deutschland seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu jetzt um 45 Prozent reduzieren und bis 2045 soll die größte Industrienation Europas klimaneutral werden, also insgesamt nicht mehr Treibhausgase ausstoßen als die Natur ausgleichen kann.

    860 Milliarden Euro an Investition bis 2030 nötig

    Bis 2030 sind es keine neun Jahre mehr. In Unternehmenszeitspannen gedacht, bedeutet dies, dass in kürzester Zeit gewaltige Investitionen gemacht werden müssen, um die gesetzlichen Vorgaben ohne Tricksen einzuhalten: Gigantische 860 Milliarden Euro an Investitionen sind laut Russwurms Experten allein bis 2030 fällig, um in Deutschland die Klimaschutzziele zu erreichen. Kurz: Ein Riesengeschäft für die Maschinen- und Anlagenbau-Industrienation, wenn sich Deutschland nicht von der internationalen Konkurrenz abhängen und vorführen lässt. Insofern dürfte die neue Leidenschaft des Industrieverbands für den Klimaschutz nicht nur dem Herz für die Umwelt folgen.

    Fast die Hälfte der Investitionen sind für den Energiesektor nötig. Denn Klimaschutz bedeutet für die Industrie vor allem Strom, Strom, Strom. Zumal auch der Autoverkehr elektrisch rollen soll: „Der deutsche Fahrzeugbestand muss weitgehend auf alternative Antriebe umgestellt werden“, fordert nun auch der BDI.

    Auch Industrieverband setzt nun auf Batterie- statt Wasserstoffautos

    Spätestens 2045 müssten 86 Prozent aller deutschen zugelassenen Autos Batteriefahrzeuge sein. Vom einstigen Lieblingskind der deutschen Autobauer, wenn es um Zukunftsträume geht, dem Wasserstoffauto, verabschiedet sich der Industrieverband in seinem Klimaprogramm. Allenfalls ein Prozent Marktanteil hält er für realistisch. „Brennstoffzellen-Pkw spielen aufgrund ihrer im Vergleich deutlich geringeren Systemeffizienz und den damit verbunden absehbar dauerhaft höheren Kosten eine Nischenrolle“, lautet der neue Realismus.

    Auch andere skurrile Ingenieursträume aus früheren Klimaplänen lässt die Machbarkeitsstudie platzen wie Seifenblasen. Etwa das Vorhaben, Deutschlands Autobahnen ähnlich wie ICE-Eisenbahnstrecken mit einer an zigtausenden Betonmasten aufgehängten Strom-Oberleitung für elektrische LKW zu überspannen. Stattdessen sollen eine halbe Million Batterie-Lkw plus gut hunderttausend mit Wasserstoff angetriebene Elektro-Lastzüge den Schwerverkehr, unterstützt von der Eisenbahn, ohne Diesel am Laufen halten. Schon 2030 sollen 70 Prozent aller Lkw elektrisch unterwegs sein.

    Industrie braucht zusätzlichen Strombedarf wie die ganze Schweiz

    Einen großen Brocken macht auch die industrielle Wärmeerzeugung aus, zum Beispiel in der Metallverarbeitung, der Erzeugung von Glas, Keramik, Baustoffen oder Chemie. „Die Stahlindustrie in Deutschland muss innerhalb von 20Jahren alle ihre Hochöfen ersetzen“, erklärt der Industrieverband. Im Prinzip muss ab sofort jede neue Anlage, die Industriebetriebe anschaffen, den Klimazielen standhalten. Koks und Kohle sollen bis 2030 vor allem durch Strom ersetzt werden, der Stromverbrauch wird allein in der Industrie um 63.000 Gigawattstunden steigen. „Das ist mehr als der heutige Strombedarf der Schweiz pro Jahr“, sagt Russwurm. Der Strom müsse verlässlich zur Verfügung stehen.

    Pro Jahr müssten Staat, Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger hundert Millionen Euro aufbringen, um das Etappenziel bis 2030 zu erreichen, sagt Russwurm. „Ein gewaltiger Kraftakt: Das klimaneutrale Industrieland gibt es nicht zum Nulltarif – weder für Unternehmen noch für private Haushalte.“

    Ebenso wichtig seien die Rahmenbedingungen der Politik: „Die aktuelle Planlosigkeit und Unsicherheit der deutschen Klimapolitik drohen zur Gefahr für unseren Standort zu werden – vom Auseinanderdriften der Gesellschaft bis zu einer dauerhaften Schwächung der Industrie“, betont Verbandschef Russwurm. Noch so ein Satz, den man so vom BDI in früheren Zeiten wohl nicht gehört hätte.

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