Spätestens seit Donald Trump seinen Handelskrieg gegen China vom Zaun gebrochen hat, ist „Decoupling“ ein viel beachtetes Schlagwort unter Ökonomen. Es bezeichnet das Entkoppeln von Lieferketten und Produktionsstätten. Für die europäische Wirtschaft in China ist ein Abzug jedoch auch in Zeiten von Corona kein Thema: Nur 11 Prozent aller Unternehmen mit Standort in der Volksrepublik ziehen überhaupt diese Möglichkeit in Betracht. „Man muss schon verrückt sein, wenn man aus China wegzieht“, sagt Jörg Wuttke, Leiter der europäischen Handelskammer in Peking. Denn fast ein Drittel des globalen Wirtschaftswachstums im nächsten Jahrzehnt wird wohl in China generiert.
Am Mittwoch hat die Handelskammer ihre jährliche Umfrage zum Geschäftsklima europäischer Unternehmen in China veröffentlicht. Unter normalen Umständen wäre der Bericht ein verlässliches Stimmungsbarometer. Dieses Mal jedoch scheinen viele Resultate wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit: Die Studie wurde nämlich im Februar erhoben, als das Virus noch als chinesisches Problem galt. Seither hat sich die Lage fast umgedreht: Die chinesische Volkswirtschaft hat sich im Land deutlich erholt, während das große Problem die Nachfrage aus dem Ausland darstellt.
Von einer offenen Wirtschaft kann in China nicht die Rede sein
Dennoch bietet die Studie wichtige Erkenntnisse über längerfristige Entwicklungen. Charlotte Roule, Vizepräsidentin der EU-Handelskammer, sprach vor Journalisten vom Erstarken chinesischer Staatsunternehmen, mit denen die Kommunistische Partei in der Corona-Krise rasch Jobs schaffen möchte. Dadurch entstünden Wettbewerbsverzerrungen und Marktbarrieren für Privatunternehmen, über die rund zwei Drittel aller europäischen Betriebe klagen. „Es gab zwar Öffnungen in einigen Branchen, aber letztlich können wir noch nicht von einer offenen Wirtschaft sprechen“, sagt Roule.
Die Lösung aus Sicht der Europäer wäre ein allumfassendes Investitionsabkommen, an dem bereits seit sieben Jahren verhandelt wird. Dieses soll eine Öffnung der chinesischen Wirtschaft herbeiführen. Präsident Xi Jinpings Signatur unter einem solchen Abkommen hätte der Höhepunkt des für September in Leipzig geplanten EU-China Gipfels werden sollen. Dieser ist jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben – offiziell wegen Corona, doch die schleppenden Verhandlungen sowie Pekings geplantes Sicherheitsgesetz für Hongkong dürften die wahren Gründe sein.
Deutsche Unternehmen hoffen auf das Investitionsabkommen der EU mit China
Doch die Wirtschaft macht Druck, dass das Investitionsabkommen zwischen der EU und Peking noch in diesem Jahr Realität wird. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, sagte, an erster Stelle stünden deutliche Verbesserungen beim Marktzugang sowie faire Bedingungen für den Wettbewerb mit chinesischen Staatsunternehmen. Bei aller Kritik gibt es jedoch auch unternehmerisches Lob an der Wirtschaftspolitik Chinas. „Wir werden momentan von der Lokalregierung noch besser unterstützt als vor der Krise“, sagt Thomas Nürnberger, der die China-Geschäfte des baden-württembergischen Mittelständlers EBM-Papst leitet. Vor allem profitiere der Hersteller von Ventilatoren und Elektromotoren, dass der Staat über mehrere Monate die Hälfte der Sozialbeiträge seiner Belegschaft übernommen hat. „Das entlastet die Unternehmen sofort – und die Mitarbeiter müssen nicht wie in Deutschland in Kurzarbeit“, sagt Nürnberger. Derzeit liegen sowohl die Aufträge als auch Umsätze noch immer höher als vor einem Jahr, doch spätestens für das dritte Quartal rechnet man auch bei EBM-Papst mit einem vorübergehenden Einbruch.
Nur einen Wermutstropfen gibt es: Dienstreisen sind nach wie vor heikel, sagt Nürnberger: „Als ich letzte Woche in unser neues Werk nach Xi’an geflogen bin, musste ich als Ausländer erst einmal direkt ins Quarantäne-Zentrum. Es hat anderthalb Stunden an Diskussionen gebraucht, um das Missverständnis aufzuklären.“
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