Jetzt ist die heiße Zeit des Handels – Geschenke werden gebraucht. Doch viele Menschen ziehen es vor, bequem vom Sofa aus einzukaufen. Herr Prof. Heinemann, Sie sind Handelsexperte, wie lange gehen wir überhaupt noch in Läden einkaufen?
Prof. Gerrit Heinemann: Das hängt vom Geschäft ab. Hier muss man differenzieren. Den stationären Lebensmittelhandel wird es sicher noch lange geben. Aber im sogenannten „Non-Food-Bereich“, also bei den Läden, die keine Lebensmittel verkaufen, ist diese Frage durchaus berechtigt.
Geht es um die Zukunft der Läden, wird immer wieder die Forderung nach längeren Öffnungszeiten laut, da Online-Shoppen rund um die Uhr möglich ist. Wie wichtig sind längere Ladenöffnungszeiten?
Heinemann: Es geht nicht um längere Ladenöffnungszeiten, sondern um flexiblere. Der Händler muss sich ganz auf die Bedürfnisse seiner Kunden einstellen. Es gibt etwa Weinhändler, die haben nur ein paar Stunden am Tag oder nur am Wochenende offen. Das kann völlig richtig sein und dem Händler das Überleben sichern.
Das heißt dann aber auch, dass wir nicht unbedingt generell mehr verkaufsoffene Sonntage brauchen, wie es aktuell diskutiert wird?
Heinemann: Nein, das brauchen wir nicht. Und schauen Sie sich die Entscheidung der Menschen in Münster in Westfalen an: Viele Kunden wollen das einfach nicht. Das muss akzeptiert werden, schließlich kommt es doch darauf an, was der Kunde will.
Viele Kunden, die im Laden einkaufen, kaufen auch online
Dennoch ist es unbestritten, dass viele Läden mit dem großen Konkurrenten Online-Handel nicht Schritt halten können und in ihrer Existenz bedroht sind. Was muss der Handel vor Ort denn tun?
Heinemann: Der Handel muss endlich erkennen, dass er es heute mit ganz anderen Kunden zu tun hat als früher. Mit emanzipierten Kunden nämlich. Mit bestens informierten Kunden. Über 70 Prozent der Kunden, die heute in einen Laden kommen, kaufen auch online. Die Kunden sind nicht selten besser informiert als das Verkaufspersonal.
Was wiederum viele Kunden ärgert.
Heinemann: Zu Recht. Daher muss sich der Händler besser auf weniger Warengruppen spezialisieren und dort nicht so breit wie möglich aufgestellt sein, sondern so tief wie möglich. Er muss sich auf einen Kernbereich konzentrieren und dort die größte Auswahl und den besten Service bieten, den es gibt. An diesem Punkt können die Geschäfte viel von den erfolgreichen Online-Händlern lernen.
Inwiefern?
Heinemann: Christian Riethmüller, der Geschäftsführer der traditionsreichen Tübinger Buchhandlung Osiander, hat kürzlich eingeräumt, dass er von der ersten Buchhandlung, die Amazon in Seattle eröffnet hat, tief beeindruckt war. Denn die Kundenorientierung der Mitarbeiter und der Service seien exzellent. Für den deutschen Einzelhandel heißt das: Die Verkäufer müssen auf die wenigen, aber spezialisierten Fragen der Kunden reagieren können. Das kann ich aber mir nur leisten, wenn ich mich auf eine Warengruppe konzentriere. Dann kann ich auch ein anderes Preismodell einführen.
Preise in Geschäften sollten sich an Konkurrenz im Internet orientieren
Ein anderes Preismodell?
Heinemann: Wenn der Kunde beispielsweise sagt, für den Bereich will ich keinen Service, dann sollte er diese Produkte auch günstiger erhalten. Die Preise hierfür sollten sich an der Konkurrenz im Internet orientieren. Meinen besonderen Service kann ich dagegen extra berechnen und beispielsweise 20 Prozent mehr dafür verlangen.
Das heißt, Geschäfte müssen das bieten, was der Online-Handel nicht kann.
Heinemann: Nein, das würde ich so nicht stehen lassen. Die digitale Allergie, an der immer noch gerade viele kleine und mittlere Geschäfte leiden, ist ein großes Problem. Der Kunde erwartet heute einfach, dass er in seinen regionalen Geschäften auch ebenso umfassend online einkaufen kann. Ihr Online-Angebot nehmen aber immer noch viel zu viele Händler nicht ernst.
Warum ist das so?
Heinemann: Weil viele Händler immer noch gedanklich in den 50er Jahren feststecken, als nach dem Prinzip verkauft wurde: gegessen wird, was auf den Tisch kommt, und man dem Kunden im Café beispielsweise erzählen konnte, dass draußen auf der Terrasse nur Kännchen serviert werden. Viele Händler wollen diesen Wandel hin zum emanzipierten Kunden einfach nicht begreifen. Beobachten kann man dies leider vor allem bei vielen kleinen Händlern: Sie wollen nicht. Das ist keine Sache des Nicht-Könnens, sondern eine des Nicht-Wollens.
Gerade viele kleine Händler erklären aber auch, dass ein perfekter Onlineauftritt zu teuer für sie ist.
Heinemann: Es gibt mittlerweile gute Plattformenlösungen, die man ohne Investitionen nutzen kann. Wirklich erschütternd ist allerdings, dass gerade viele kleine lokale Händler nicht einmal die Voraussetzungen für einen Online-Shop haben, weil sie über kein Warenwirtschaftssystem verfügen. Da fehlt es an Professionalität. Viele unabhängige Lokalhändler sind beratungsresistent. Sie unterschätzen einfach die Digitalisierung und ihre Folgen.
Viele Kunden wollen nicht mehr Schlange stehen
Das heißt, dass vor allem die kleinen und mittleren Geschäfte, die ja die Vielfalt im Innenstadthandel ausmachen, besonders bedroht sind?
Heinemann: Nicht alle. Wie gesagt, es gibt auch Läden, die sich radikal auf die Wünsche ihrer Kunden konzentrieren und damit gut fahren. Ich verstehe aber auch nicht, dass die vielen Händler-Kooperationen, die es ja gibt, den Online-Handel so lange als Feind des stationären Handels angesehen haben und den Aufbau eines Internetangebots völlig verpennt haben. Da wäre schon viel früher eine intensive Überzeugungsarbeit nötig gewesen. Ich weiß oft gar nicht, was ich zu diesen großen Versäumnissen sagen soll.
Zum Online-Shop gehört auch ein perfekter Lieferservice.
Heinemann: Es gehört ein perfekter Lieferservice dazu, Schlange stehen wollen viele emanzipierte Kunden nämlich nicht mehr. Aber auch die Einsatzmöglichkeit von Smartphones beim Einkaufen ist wichtig, da kann ich dem Kunden vieles erleichtern und einen tollen Service bieten. Doch das sind unternehmerische Entscheidungen, die leider sehr oft ausbleiben. Damit wird das deutsche Onlinegeschäft zunehmend den drei führenden amerikanischen Unternehmen Amazon, eBay und Apple überlassen.
Händler müssen sich auf Kunden einstellen
Gehen wir mal ein Stückchen von den Ladenöffnungszeiten weg. Viele Menschen wünschen sich auch in anderen Lebensbereichen flexiblere Sprech- und Öffnungszeiten – etwa beim Arzt, in Ämtern, bei Kindertagesstätten. Warum bewegt sich in diesen Bereichen nichts im Sinne der Verbraucher?
Heinemann: Das Thema, das Sie jetzt ansprechen, ist in Deutschland mit vielen Tabus beladen. Darüber wird oft gar nicht offen diskutiert. Dabei wären das vor allem Aufgaben, die Kommunalpolitiker aufgreifen müssten. Doch hier sprechen so viele Lobbyisten mit – Gewerkschaften etwa –, die ihre ganz eigenen Interessen verfolgen, dass diese Themen meist von Anfang an ausgebremst werden. Die Hoffnung aufgegeben habe ich natürlich noch nicht. Denn mit der Digitalisierung kommt auch hier viel in Bewegung.
Letzte Frage: Wie viel Zeit haben die deutschen Händler noch, sich ganz auf den emanzipierten Kunden einzustellen?
Heinemann: Es gibt noch ein Zeitfenster von etwa einem Jahr, maximal zwei Jahren. Danach wird der Vorsprung der Onliner zu groß sein. Dann ist Schluss.
Zur Person Gerrit Heinemann (56) ist Professor für Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Managementlehre und Handel an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach und leitet dort das eWeb Research Center.