Herr Holstein, ein Wort, das die Stimmung dieser Zeit vielleicht am besten beschreibt, ist Unsicherheit: Corona-Krise, Chinas Aufstieg und seine Schattenseiten, die mit sich selbst beschäftigten USA – die Liste lässt sich lange fortsetzen. Leben wir in einer Zeit mit historisch hoher Unsicherheit?
Michael Holstein: Wir haben derzeit enorm viele Themen, die eine große Tragweite haben und die wir noch gar nicht ganz überschauen können. Die Coronakrise hat alles noch einmal verschärft. Allerdings muss man auch sagen, die Unsicherheit beschäftigt uns schon seit Jahren. Spätestens seit dem Jahr 2016, als Donald Trump die Wahlen in den USA gewonnen und Großbritannien sich für den Brexit entschieden hat, kämpfen wir mit großen Unsicherheitsfaktoren. Nun hat Trump die Wahlen verloren und der Brexit ist vollzogen, aber all die anderen, die Sie genannt haben und noch weitere, sind nach wie vor da. Gerade was Corona angeht, ist die Unsicherheit sehr hoch, weil es jeden so direkt betrifft. Dennoch glaube ich, dass es mittlerweile wieder mehr Zuversicht gibt, dass wir das Thema in diesem Jahr hinter uns lassen. Insofern würde ich sagen, die Unsicherheit ist nicht mehr so groß, wie im vergangenen Jahr.
Woran machen Sie das fest?
Holstein: An den Finanzmärkten betrachten wir dafür sogenannte Volatilitätsindizes, mit denen gemessen wird, welche Schwankungen die Marktteilnehmer für die Zukunft erwarten. Und da kann man sehen, dass die Unsicherheit im Frühjahr 2020 enorm groß war, die Volatilität war sogar etwas höher als zu Hochzeiten der Finanzkrise. Aber das hat sich deutlich zurückgebildet, an den Aktienmärkten ist davon nicht mehr viel zu sehen. Dann gibt es noch andere Messgrößen, die nicht so finanzmarktbezogen sind. Unsicherheit kann man auch messen, indem man etwa Zeitungsartikel auswertet und daraus einen Index bildet. Auch der ist enorm stark gestiegen aufgrund der Coronakrise – aber in den letzten Monaten ebenfalls zurückgegangen. Der Ausblick auf die anlaufenden Impfungen hat, trotz aller Probleme, zu mehr Zuversicht geführt.
Wie sind Unternehmen und Staaten mit der Krise zurechtgekommen?
Holstein: Ich glaube für eine solche Krise, wie wir sie jetzt erleben, war die gesamte Gesellschaft schlecht vorbereitet. Wir haben ja gesehen, wie am Anfang improvisiert werden musste, erst mal Regeln gefunden werden mussten, nach denen man vorgehen kann. Die Unternehmen haben das relativ schnell und gut umgesetzt. Ich glaube das größere Problem war, ohne da jetzt billige Schuldzuweisungen zu machen, dass die Politik erstens schlecht vorbereitet war und es zweitens bis heute nicht geschafft hat, die wichtigsten Punkte in den Griff zu kriegen. Wenn wir nur an den Schutz der am meisten gefährdeten Gruppen denken, die Menschen in den Alten- und Pflegeheimen. Da hat man jetzt ein Jahr Zeit gehabt und ist nicht wirklich vorangekommen. Auch die Schulen sind weiterhin nicht ausreichend ausgestattet, um unter beschwerten Bedingungen arbeiten zu können. Dass wir heute noch in einer relativ schwierigen Lage sind, hängt mit den Problemen bei der Impfstoffproduktion und -beschaffung zusammen. Zudem wissen wir zu wenig darüber, wie das Infektionsgeschehen genau verläuft und können so die Maßnahmen nicht genau abstimmen.
Trotz aller Probleme dürften Deutschland und Europa das Impfen im Laufe des Jahres wohl in den Griff bekommen. Ganz anders ist die Lage etwa in weiten Teilen Afrikas oder Asiens. Bedroht diese Ungleichheit die Erholung der Weltwirtschaft?
Holstein: Ich sehe das nicht als großes Risiko. Es stimmt, dass die westlichen Industrieländer den ersten Zugang zu den meisten Impfstoffen haben und dass viele Länder, die ärmer sind noch gar keine Impfstoffe haben. Aber gerade in Asien haben es viele Länder geschafft, mit Maßnahmen, die man hier nicht unbedingt haben will, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Allen voran China natürlich, aber auch andere Länder, Japan zum Beispiel. Afrika ist auch kein Hotspot bislang. Das hängt wohl auch mit der günstigeren Bevölkerungsstruktur zusammen, die Anzahl der Älteren ist sehr viel geringer. Zudem gibt es ja nicht nur die Impfstoffe, über die wir in Europa immer reden, sondern es gibt auch den russischen, den chinesischen und es gibt auch einen indischen. Zumindest der russische und der chinesische werden auch in Länder geliefert, die an dem Impfstoffrennen nicht teilnehmen können.
Was sind Ihre Prognosen für die Konjunktur?
Holstein: Die globale Wirtschaft wird sehr stark davon profitieren, wenn man die Pandemie soweit im Griff hat, dass zumindest die gefährdetsten Gruppen geimpft sind. Wir gehen davon aus, dass wir im zweiten Quartal 2021 Besserungen sehen, weil dann erste Lockerung gemacht werden können. Den Post-Corona-Boom, die kräftige Erholung, sehen wir im zweiten Halbjahr 2021. Da erwarten wir wirklich kräftiges Wachstum, das trägt dann bis in das Jahr 2022 hinein. Für 2021 rechnen wir insgesamt mit einem deutschen Wachstum von 2,7 Prozent.
Bis dahin werden noch viele Milliarden Hilfsgelder ausgezahlt werden. Hat die Hilfe des Staates die erhoffte Wirkung gebracht oder verpufft das meiste Geld, weil die Pleitewelle erst noch kommt?
Holstein: Ich glaube die Hilfe kam schnell und in großem Volumen, mit der Bazooka, weil die Politik am Anfang gar nicht so genau wusste, wie die Hilfe am effizientesten und am besten ausgestaltet sein sollte. Man hat einfach große Töpfe bereitgestellt, um dann mal zu schauen, wie die Situation sich entwickelt. Das war wahrscheinlich auch das einzig Richtige. Das hat dazu geführt, dass die Zahl der Insolvenzen in der Krise sogar noch zurückgegangen ist. Das hängt natürlich damit zusammen, dass man das Insolvenzrecht ausgesetzt hat, die Unternehmen keine Insolvenz anmelden mussten. Insgesamt hat es geholfen, aber es hat natürlich nicht alles so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat. Viele Unternehmen musste sehr lange auf die Hilfe warten, es war nicht alles treffsicher und es ist auch nicht alles abgerufen worden, von den bereitgestellten Mitteln.
Rechnen Sie denn mit mehr Pleiten?
Holstein: Die Betroffenheit von der Krise war ja sehr unterschiedlich. Die Industrie etwa war vom ersten Lockdown sehr betroffen, weil die Lieferketten nicht funktioniert haben und der Welthandel zeitweise fast zum Erliegen gekommen ist. Das ist jetzt im zweiten Lockdown ganz anders, da funktioniert alles beinahe reibungslos. Diese Entwicklung wird Deutschland insgesamt helfen. Aber andere Branchen, die vor allem aus kleineren Unternehmen bestehen – der Einzelhandel, das Gastgewerbe und persönliche Dienstleistungen etwa – sind jetzt noch mal sehr stark betroffen. Deren Lage hat sich durch die neue Inzidenz von 35 sogar weiter verschärft – Planungssicherheit sieht anders aus. Was da die Folgen sein werden, werden wir erst im Laufe des Jahres sehen. Man muss schon damit rechnen, dass die Insolvenzen ansteigen werden.
Die Wirtschaft kommt als Ganzes vielleicht relativ gut durch die Krise. Aber die Staatsschulden explodieren überall in Europa. Ist die nächste Krise da nicht vorprogrammiert?
Holstein: Man muss da differenzieren. Wir sehen einen sehr starken Anstieg der Verschuldung, aber die Staaten sind von sehr unterschiedlichen Niveaus in diese Situation gegangen. Deutschland etwa lag bei gut 60 Prozent Schulden in Bezug auf die Wirtschaftsleistung. Das wird bis Ende des Jahres auf über 70, vielleicht bis 75 Prozent ansteigen. Aber das ist nichts, was uns Sorgen bereitet. Bei einer Rückkehr zu einer disziplinierten Fiskalpolitik, wenn die Schuldenbremse wieder greift, sollten wir es relativ schnell schaffen, wieder auf das Vorkrisenniveau zurückzukehren. Unsere Berechnungen zeigen, das ist bis 2027 möglich.
Das sieht zum Beispiel in Italien ganz anders aus …
Holstein: Italien ist von einem sehr viel höheren Schuldenstand gestartet. Vor der Krise lag er schon bei über 130 Prozent der Wirtschaftsleistung und wird jetzt in Richtung 160 Prozent oder noch etwas höher gehen. Da sind wir schon in Bereichen, wo man es sich nur sehr schwer vorstellen kann, dass das Land in absehbarer Zeit wieder von so einem hohen Schuldenstand runterkommen kann. Auf der anderen Seite haben wir das Extremniedrigzinsumfeld und eine Notenbank, die mit Anleihekäufen enorm unterstützt. Für Staaten ist es heute viel einfacher möglich, ein wesentlich höheres Schuldenniveau zu tragen. Auf die nächsten Jahre gesehen sind die enorm gestiegenen Staatsschulden kein Wachstumshindernis.
Hilfe kommt auch von der EU. Mit vielen Milliarden sollen nicht nur die Wirtschaft gerettet, sondern auch noch Klimaschutz und Digitalisierung angeschoben werden. Ist das nicht ein wenig viel auf einmal?
Holstein: Es ist ein großer Anspruch, aber ich glaube, dass es richtig ist, dass man so ein großes Paket aufgelegt und den Fokus auf Nachhaltigkeit und Digitalisierung gelegt hat. Das Paket soll ja vor allem den Staaten zugutekommen, die ohnehin schon einen hohen Schuldenstand und daher Probleme haben, sich zu refinanzieren und Investitionen zu stemmen. 30 Prozent der Mittel sollen dem Klimaschutz dienen und in entsprechende Projekte fließen. Die Mitgliedsstaaten sollen Vorschläge machen, die von der Kommission dann abgesegnet werden. Das kann ein guter Hebel sein, Reformen voranzubringen. Und es kann die politische Einheit in Europa fördern, die zuletzt ziemlich gelitten hat.
Wie kann der Finanzmarkt zu mehr Umwelt- und Klimaschutz beitragen?
Holstein: Die Kapitalmärkte sind da ein ganz zentraler Spieler. Sie vermitteln zwischen Investor und Kapitalgeber und sorgen so dafür, dass notwendiges Kapital in die richtigen Kanäle fließt. Wir sehen jetzt schon, dass bei der Zinsfindung an den Märkten bereits zwischen grüner, also klimafreundlicher, und brauner Verwendung differenziert wird. Banken und Kapitalmärkte können außerdem Einfluss nehmen, indem sie informieren und sensibilisieren. Eine Kapitalsammelstelle wie Blackrock, der größte Vermögensverwalter der Welt, hat sich da seit Monaten sehr stark positioniert. Das bringt für Unternehmen einen ganz neuen Druck, wenn klar ist, dass von Kapitalmarktseite darauf geachtet wird, dass sie sich in Richtung Klimaschutz positionieren.
Ein ungelöstes Problem dabei ist, nach welchen Kriterien eine Anlage oder Investition als Grün gelten soll. Bislang läuft das vornehmlich über Agenturen, die entsprechende Labels vergeben. Das ist teuer und undurchsichtig …
Holstein: Das ist sicher der springende Punkt. Hier muss man dringend weiter vorankommen. Da gibt es derzeit aber auch Anstrengungen von Seiten der EU. Das Problem ist: Die Regeln müssen klar sein. Sie dürfen nicht zu eng sein, weil man sich sonst neue Probleme einhandelt. Zu lax dürfen sie aber auch nicht sein, sonst geht die Glaubwürdigkeit verloren. Wir brauchen einen gangbaren Mittelweg.
In jedem Fall kostet diese Zertifizierung aber Geld und damit Rendite. Warum sollen Anleger bereit sein, niedrigere Renditen zu akzeptieren?
Holstein: Wir sehen es ja schon, dass die Anleger bereit sind, niedrigere Renditen zu akzeptieren. Bei privaten Anlegern liegt das meist an einer intrinsischen Motivation. Diese Menschen wollen mit gutem Gewissen anlegen, wissen, sie investieren ihr Geld in zukunftsorientierte Projekte. Bei den professionellen Anlegern ist es die Erwartung, dass sich grüne Anlage in den nächsten Jahren besser entwickeln werden, als braune. Mit Technologien, die nicht dem Klimaschutz dienen, sind auf Dauer schlechtere Renditen zu erzielen.
Heißt das, wenn die Energiewende tatsächlich gelingt und wir nur noch Strom aus Erneuerbaren Energien produzieren, kostet das nicht nur Geld, sondern wird womöglich zu einem Standortfaktor?
Holstein: Ja, das glaube ich schon. Zum einen wird das ein positiver Standortfaktor sein, wenn wir das schaffen. Aber es wird auch ein Exportschlager sein, weil alle Länder früher oder später umsteigen müssen. Die Investitionen können sich gut auszahlen. Mit Trump ist einer der letzten großen Klimawandelleugner abgetreten. Die USA sind mit Biden in die internationale Gemeinschaft der Bekämpfer des Klimawandels zurückgekehrt. Wir sind ohnehin hinten dran in diesem Kampf und das muss jetzt schnell vorangehen.
Zur Person: Dr. Michael Holstein ist Chefvolkswirt der DZ BANK Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank in Frankfurt und leitet die Abteilung Volkswirtschaft.
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