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Interview: Verkehrsforscherin: "Sollten anfangen, zuerst an Fußgänger zu denken"

Interview

Verkehrsforscherin: "Sollten anfangen, zuerst an Fußgänger zu denken"

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    Der Fußgänger kommt in der Verkehrsplanung oft zu kurz.
    Der Fußgänger kommt in der Verkehrsplanung oft zu kurz. Foto: Ronald Wittek, dpa (Symbolbild)

    Frau Gaffron, Sie leben in Hamburg. Wie kommen Sie dort von A nach B?

    Philine Gaffron: Ich fahre Fahrrad und nutze den öffentlichen Nahverkehr. Ein eigenes Auto habe ich nicht, dafür besitze ich vier Fahrräder, unter anderem ein Lastenrad und ein Faltrad. Und natürlich gehe ich auch zu Fuß. Fast alle sind ja auch Fußgänger, selbst wenn es nur auf dem Weg zum Auto oder zu Bus und Bahn ist.

    Fühlen Sie sich als Fußgängerin in Ihrer Stadt wohl?

    Gaffron: Ich wohne in einer Straße, in der auf beiden Seiten dicht geparkt wird – oft auch auf dem Gehweg. Für Menschen wie mich, die keine Bewegungseinschränkungen haben, birgt das wenig echte Probleme, aber wirklich angenehm ist das zu Fuß schon vor meiner Haustür nicht immer. Und leider ist es für andere, die mit Kinderwagen oder Gehhilfen unterwegs sind, an manchen Stellen fast unmöglich, vorbeizukommen oder die Straße zu überqueren. Solche Probleme hat nicht nur Hamburg. Es gibt in Deutschland viele Innenstädte, die für Fußverkehr eigentlich recht gut geeignet sind. Aber dann wurde dem motorisierten Verkehr über die Jahre immer mehr Platz gegeben. Und für Menschen zu Fuß oder auf dem Fahrrad blieb immer weniger Raum.

    Warum haben sich Stadtplaner so lange hauptsächlich auf den Autoverkehr konzentriert?

    Gaffron: Zunächst war es die Euphorie über die neue Technologie und die Unabhängigkeit, die das Auto für viele gebracht hat. Damals war auch das Wissen über den Klimawandel noch nicht so weit verbreitet wie heute. Autofahren galt erst als Fortschritt, später als Selbstverständlichkeit. Ein Auto ist außerdem auch oft ein Statussymbol. Wir sehen aber auch, dass sich das verändert. In vielen Städten haben 40 bis 50 Prozent der Haushalte gar kein eigenes Auto mehr.

    Auf dem Land sieht das allerdings ganz anders aus. Dort sind viele Menschen auf ihr Auto angewiesen.

    Gaffron: In ländlichen Gebieten kommen ja zwei Dinge zusammen: Zum einen sind die Wege zu Supermärkten, Schulen und zur Arbeit natürlich weiter, weil die Landschaft dünner besiedelt ist. Und zum anderen ist das ÖPNV-Angebot schlechter. Die Fahrpläne sind oft hauptsächlich auf den Schülerverkehr ausgerichtet, das macht sie für viele andere unattraktiv. Mit dem Auto zu fahren ist für viele einfacher oder sogar die einzige Möglichkeit. Der Nahverkehr muss dort also dichter und flexibler werden. Aber wenn wir die Verkehrswende in den Städten schaffen, dann ist es meiner Meinung nach auch kein großes Problem, wenn Menschen in dünner besiedelten Gebieten weiter auch mit dem Auto unterwegs sind, das dann hoffentlich nachhaltig angetrieben wird.

    Jetzt reden auch wir wieder vor allem über die Autofahrer. Kommt der Fußgänger in der öffentlichen Diskussion zu kurz?

    Gaffron: Auf jeden Fall. Das hat auch mit einer oft gespaltenen Mobilitätsidentität zu tun. Jeder Weg fängt zu Fuß an, aber dann steigen wir meist um auf ein anderes Verkehrsmittel. Und sehen dann Fußgänger oder auch Fahrräder oder Autos schnell als Hindernis. Auch in den Medien liest man öfter mal vom „Kampf auf den Straßen“. Das finde ich problematisch. Wenn mir jeden Tag erzählt wird, dass alle anderen meine Gegner sind, dann verhalte ich mich irgendwann auch so. Ich finde, wir sollten wieder anfangen, zuerst an den Fußgänger zu denken.

    Was heißt das in Bezug auf die Verkehrsplanung?

    Gaffron: Sehr wichtig ist der Platz. Zu Fuß gehen braucht mehr Raum, am besten mit Bürgersteigen, die 2,50 bis drei Meter breit sind. Wenn Menschen vor die Tür treten, sollten sie das Gefühl haben, sich ohne Einschränkung bewegen zu können. Gute Wegweiser, Straßengrün und Witterungsschutz sind ebenfalls wichtig. Der begrenzte Platz, den wir in den Städten haben, muss im Sinne der Fußgänger und Radfahrer umverteilt werden. Wir brauchen einen Perspektivwechsel.

    Was bedeutet das konkret?

    Gaffron: Ich finde es bezeichnend, dass Schwarzfahren eine Straftat ist und Falschparken nur eine Ordnungswidrigkeit. Es gibt Menschen, die für Schwarzfahren im Gefängnis sitzen. Dazu kommt die geringe Höhe der Bußgelder. Falschparker zahlen in Deutschland maximal 35 Euro, nämlich dann, wenn sie unerlaubt auf einem Behindertenparkplatz stehen. Das ist ein Unding. In den Niederlanden kostet es das Zehnfache. Auch in Spanien zahlt man für Falschparken 100 bis 200 Euro. Höhere Bußgelder schrecken eher ab und haben auch eine Signalwirkung. Sie zeigen, dass der öffentliche Raum uns etwas wert ist und man ihn nicht einfach missbrauchen kann.

    Glauben Sie, dass sich Falschparker durch Bußgelder wirklich abschrecken lassen?

    Gaffron: Durchaus. In anderen europäischen Städten wie London lässt sich das gut beobachten. Mit den Bußgeldern allein ist es aber nicht getan. Wenn wir Fußgängern, Radfahrern und Nahverkehr mehr Platz geben wollen, dann müssen wir auch den Parkraum verknappen.

    Wäre das nicht der Tod des Einzelhandels? Schon jetzt klagen doch viele Händler darüber, dass es zu wenig Parkplätze für ihre Kunden gibt oder die Parkgebühren zu hoch sind.

    Gaffron: Es ist ein Trugschluss, dass ausgerechnet der Autoverkehr den Innenstadt-Handel retten könnte. Die meisten Untersuchungen zeigen, dass Kunden, die zu Fuß unterwegs sind, mehr Geld ausgeben als Menschen, die im Auto anfahren. Natürlich gibt es immer Situationen, in denen es nicht ohne großes Fahrzeug geht, zum Beispiel, wenn ich eine Waschmaschine kaufe. Aber in solchen Fällen kann man entweder ein Fahrzeug mieten oder der Händler liefert die Waschmaschine gleich bis nach Hause. Das geht sogar mit manchen Lastenrädern.

    Wie sieht Ihre Vision einer modernen Innenstadt aus?

    Gaffron: Gerade in großen Städten würde ich mir autoarme Zentren wünschen. Dazu gehören Fahrverbote für den motorisierten Privatverkehr und, wie schon gesagt, die Verknappung von Parkplätzen. Gleichzeitig muss es aber gute Alternativen geben. In Hamburg wird aktuell geplant, Busse und Bahnen alle fünf Minuten fahren zu lassen. Fußgänger brauchen außerdem mehr Sitzgelegenheiten. Die Menschen werden immer älter. Manch einer geht nur deshalb nicht mehr zu Fuß, weil er Angst hat, den Weg ohne kurze Pausen nicht zu schaffen.

    Gibt es Städte, in denen Teile Ihrer Vision schon umgesetzt sind?

    Gaffron: Ja, in der spanischen Stadt Pontevedra ist zum Beispiel ein großer Teil der Innenstadt autofrei. Rund um das Zentrum gibt es dafür Parkhäuser, außerdem hat die Stadt einen Fußgängerplan erstellt, den metro minuto. Das muss man sich wie einen Linienfahrplan für Fußgänger vorstellen, der zeigt, wie lange man zu Fuß von A nach B benötigt. Im belgischen Gent fahren in der Fußgängerzone außerdem Elektrobusse im Schritttempo. Die nehmen kostenlos Menschen mit, die nicht gut zu Fuß sind.

    Wie wichtig ist der Faktor Geschwindigkeit? Immer wieder gibt es ja auch Forderungen nach Tempo 30 in den Städten.

    Gaffron: Das finde ich sehr sinnvoll. Innerorts sollten wir das zur Regelgeschwindigkeit machen und dann die Ausnahmen beschildern. Der Verkehr wird dadurch insgesamt sicherer und auch leiser. Das ist sowohl für Fußgänger als auch für den Radverkehr angenehmer.

    Aber drohen die Innenstädte nicht noch mehr zu verstopfen, wenn alle nur noch Tempo 30 fahren?

    Gaffron: Normalerweise ist es eher umgekehrt. Wir wissen aus der Verkehrsplanung, dass bei einer geringeren Geschwindigkeit mehr Fahrzeuge auf der Fahrbahn Platz haben. Außerdem liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit in der Stadt auch jetzt schon meistens unter 30, es wird nur mehr beschleunigt und gebremst.

    Seit diesem Sommer gibt es auf den Straßen und Radwegen noch zusätzliche Verkehrsteilnehmer: Die E-Scooter-Fahrer. Können die Elektro-Roller einen Beitrag zur Verkehrswende leisten?

    Gaffron: E-Scooter könnten möglicherweise als Zubringer zum ÖPNV in Außenbezirken sinnvoll sein, wenn dafür dann tatsächlich das Auto stehen bleibt, also wenn Pendler die letzten ein oder zwei Kilometer vom Zug in die Innenstadt nicht zu Fuß zurücklegen wollen. Aber für das, was sie können, bekommen sie eigentlich zu viel Aufmerksamkeit. Ich habe noch keine Untersuchung gelesen, die zeigt, dass sie Emissionen senken. Dazu kommt, dass die Akkus in der Herstellung höchst problematisch sind. Ich sehe also nicht, dass die Roller den Verkehr in der Innenstadt in irgendeiner Form nachhaltiger machen.

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