Tijen Onaran ist Gründerin der internationalen Initiative Global Digital Women (GDW), die sich für die Sichtbarkeit und die Vernetzung von Frauen in Digitalberufen engagiert. Um herauszufinden, welche konkreten Anforderungen und Ansprüche Arbeitnehmer heute an ihre Arbeitgeber haben und welchen Stellenwert Diversität und Digitalisierung haben, hat GDW gemeinsam mit der Europa-Universität Flensburg eine Studie zum Thema „Diversität und Digitalisierung in Unternehmen“ durchgeführt.
Frau Onaran, warum trägt die Studie den Titel „Wunsch und Wirklichkeit?
Tijen Onaran: Wir, also das Unternehmen Global Digital Women, das sich für Diversität einsetzt, und die Uni Flensburg haben die Studie „Wunsch und Wirklichkeit“ genannt, weil wir festgestellt haben, dass das Themen Diversität für sehr viele Unternehmen – gerade die großen DAX30-Unternehmen – eine immens wichtige Rolle spielt. Die Umsetzung entspricht aber häufig nicht der Realität.
Das heißt?
Onaran: Was Diversität, also Vielfalt, angeht, machen sich viele Unternehmen auf den Weg, mitunter auch wegen der politischen Rahmenbedingungen, die durch die Frauenquote gesetzt worden sind. Aber wenn man den Realitätsabgleich macht und diejenigen fragt, die es betrifft – in diesem Fall Frauen in Digitaljobs – merkt man durchaus, dass es eine große Diskrepanz gibt. Für mich als diejenige, die viel in Unternehmen unterwegs ist und das Thema Diversität und Inklusion sehr stark vorantreibt, war dieses Ergebnis keine große Überraschung. Aber einzelne Ergebnisse der Studie haben mich doch überrascht.
Welche genau?
Onaran: Diejenigen, die sich sehr stark mit modernem Feminismus auseinandersetzen, reden schnell über die Wichtigkeit von Vorbildern. Das mache ich auch immer wieder. Nun haben wir festgestellt, dass das Thema bei den Jüngeren, also der Generation um die 30, gar nicht eine so große Rolle spielt, wie wir immer dachten. Dafür ist es aber ein extrem wichtiges Thema für die Generation ab 45. Wir haben uns dann die Ergebnisse noch einmal genauer und auch die einzelnen Kommentare angeschaut, woraus das resultieren kann.
Und?
Onaran: Meine These – die auch zur Realität passt – ist, dass um die 30-Jährige sehr häufig denken, es wäre alles in Ordnung, überall wäre schon Gleichberechtigung, sie könnten überall Karriere machen. Aber je älter sie werden und je höher sie aufsteigen, merken sie, dass die Luft dünner wird und es immer weniger Frauen in Top-Management-Positionen gibt. Dadurch wird die Wichtigkeit von Vorbildern stärker, je älter man wird. Hinzu kommt auch, dass die ab 45-Jährigen niemanden mehr haben, zu dem sie aufschauen können. Sie wünschen sich Frauen, die den Weg schon gegangen sind, zu denen sie aufschauen und bei denen sie sich Inspiration holen können. Das war ein Ergebnis, das mich sehr überrascht hat. Das hat meine eigene Realität noch einmal in eine andere Richtung gerückt.
Gab es noch mehr überraschende Ergebnisse?
Onaran: Eine Erkenntnis war nicht unbedingt eine große Überraschung, eher eine gute Bestärkung: Eine Dimension von Diversität in einem Unternehmen – in diesem Fall Geschlechterdiversität – dient als Katalysator für andere Dimensionen von Diversität. Es gibt nicht nur Geschlechtervielfalt, sondern auch Generationenvielfalt, verschiedene Herkünfte, Erfahrungsdiversität. In dem Moment, in dem eine Dimension davon abgedeckt ist – in Deutschland ist momentan noch die Geschlechterdiversität sehr stark im Fokus – fördert das andere Formen von Diversität. Das bedeutet: Wenn sich Unternehmen auf den Weg machen und diverser werden wollen, sollten sie sich eine Dimension aussuchen. Ich empfehle da auf das Thema Geschlechtervielfalt zu setzen, weil es wirklich sehr naheliegt, sodass man ein motivierendes Tool für andere Formen von Diversität hat.
Digitalisierung dürfte mittlerweile den meisten Menschen ein Begriff sein. Aber warum ist Diversität so wichtig?
Onaran: Diversität heißt übersetzt ja nichts anderes als Vielfalt. Viele Studien, unter anderem auch unsere, haben herausgefunden, dass vielfältig zusammengesetzte Teams erfolgreicher sind. Also Teams, die aus verschiedenen Geschlechtern bestehen, aus Menschen, die aus unterschiedlichen Ländern kommen, die unterschiedliche Erfahrungen in Unternehmen gemacht haben – also nicht seit 25 Jahren im selben Unternehmen arbeiten, sondern verschiedene Jobs in verschiedenen Unternehmen hatten. Gerade im Kontext von Digitalisierung müssen Unternehmen darüber nachdenken, wie sie fit werden können für die Zukunft der Arbeitswelt, wie sie traditionelle Arbeitsstrukturen aufbrechen und innovativer werden. Im Zuge dessen müssen sie auch darüber nachdenken, ob die bisherige Arbeitsweise die richtige ist. Häufig kommen Unternehmen zu dem Schluss, einiges hinterfragen zu müssen. Da kommen dann die vielfältigen Teams ins Spiel.
Wie genau muss man sich das vorstellen?
Onaran: Wenn ich an einem Produkt arbeite und überlege, welche Zielgruppe dieses Produkt adressieren könnte, dann werde ich höchstwahrscheinlich die besseren Ergebnisse einfahren, wenn ich Menschen in meinem Team habe, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf dieses Produkt schauen. Vielfältige Teams sind innovativer und damit eben auch fitter für die Digitalisierung.
Die Studie zeigt, dass Unternehmen mit einem höheren Frauenanteil in Führungspositionen in Sachen Diversität und Digitalisierung wesentlich besser aufgestellt sind. Was genau tragen Frauen bei zur Digitalisierung?
Onaran: Ich glaube, dass das ganz stark mit dem Punkt zusammenhängt, dass Vielfalt nicht nur Geschlechtervielfalt bedeutet, sondern dass verschiedene Formen von Vielfalt abgebildet werden sollten. Wir in Deutschland sind aber eben sehr stark auf Geschlechtervielfalt fokussiert, weil uns das naheliegt und schneller umsetzbar ist. Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt ist, dass eine neue Art des Arbeitens gefordert ist. Stichwort: vernetztes Arbeiten, kollaboratives Arbeiten. Also die Fähigkeit, nicht nur mein Produkt zu denken, sondern auch darüber nachzudenken, welche verschiedenen Zielgruppen dieses Produkt tatsächlich adressieren kann und wie ich dieses Produkt auch für die Zukunft der Arbeitswelt denken kann. Und da erlebe ich, dass Frauen – ohne jetzt in alle Stereotype hineingeraten zu wollen – eine andere Art des Arbeitens haben.
Inwiefern?
Onaran: Stichwort: Teamarbeit. Sie sind kollaborativer, sie denken nachhaltiger. Da geht es nicht darum, ein Produkt zu skalieren, sondern es nachhaltig so auf die Beine zu stellen, dass es auch wettbewerbsfähig ist. Und da glaube ich, dass Frauen Eigenschaften, aber vor allem eine Denkweise mitbringen, die durchaus mehr auf Nachhaltigkeit, Innovation und Digitalisierung aus ist, als wenn ein reiner Männerzirkel an einem Tisch sitzt.
Geht aus Ihrer Studie hervor oder können Sie sich herleiten, woran das liegt?
Onaran: Ich bin kein Fan von Stereotypen, die sagen „Frauen sind so, Männer sind so“. Es gibt immer Gegenbeispiele. Ich sehe aber, dass es ungesund ist, wenn ein Unternehmen oder ein Team nur aus Menschen zusammengesetzt ist, die alle dasselbe Geschlecht haben. Das ist ungesund für die Unternehmenskultur, das ist nicht nachhaltig, das ist nicht wettbewerbsfähig, das ist nicht innovativ.
Welchen Schluss können Unternehmen daraus ziehen?
Onaran: Ich merke immer wieder, dass man es zu dem Punkt zusammenfassen kann: Wer auf Frauen setzt, setzt auf Digitalisierung. Ich bin viel in großen Unternehmen unterwegs, auch in einigen mittelständischen Unternehmen. Sobald in Teams, die bisher aus Männern zusammengesetzt waren, eine Frau mit Digitalexpertise hinzukommt, werden sie erfolgreicher und die Produkte werden auch anders gedacht. Auch die Ergebnisse werden anders gedacht. Daher ist Vielfalt für mich nicht nur ein gesellschaftspolitischer Anspruch, den wir haben sollen. Vielfalt ist vor allem auch ein ökonomischer Faktor, den Unternehmen auf gar keinen Fall außer Acht lassen sollten.
Sie sagten, Sie seien viel in großen Unternehmen unterwegs, aber auch in mittelständischen. Gelten die Studienergebnisse denn gleichermaßen für Großkonzerne wie für den Mittelstand?
Onaran: Ein Ergebnis der Studie war, dass der Mittelstand die Digitalisierung verschläft. Das hat mich nicht sehr stark überrascht. Wir merken durchaus, dass der Mittelstand sehr hinterherhinkt, was sowohl Vielfalt als auch Digitalisierung betrifft. Ich glaube, dass das sehr stark damit zusammenhängt, dass der Mittelstand vor allem in Deutschland sehr davon profitiert hat, dass er so stark war und sehr erfolgreich. Schauen wir uns die „Hidden Champions“ an, also die Weltmarktführer, die in Deutschland sitzen: Denen ging es sehr, sehr lange gut. Jetzt kommt die Digitalisierung, die nicht erst seit gestern da ist sondern schon eine ganze Weile. Auf einmal muss man Dinge anders denken, Prozesse vielleicht automatisieren. Da stellt sich auch die Frage, ob Menschen, die die Jobs bisher machen, so qualifiziert sind, dass sie auch für die Zukunft fit sind. All diese Fragen muss sich der Mittelstand stellen und ich merke, dass sich der Mittelstand da sehr schwer tut. Aber: Wenn sich mittelständische Unternehmen auf den Weg machen, geht es dann doch häufig schneller als bei den großen Unternehmen.
Warum?
Onaran: Das hat viel mit der Größe zu tun, aber auch mit der Art und Weise, wie dann gedacht wird. Also wenn es auf einmal heißt, dass sich etwas verändern muss, dann wird auch wirklich ad hoc etwas verändert. Aber der Prozess, bis diese Erkenntnis wirklich in die Realität umgeschlagen ist, der dauert häufig länger als in großen Unternehmen, die natürlich auch ganz anderen Druck an der Stelle haben.
Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich für Unternehmen aus all diesen Erkenntnissen?
Onaran: Erstens: Das Thema Vielfalt, gerade im Kontext der Digitalisierung, sollte nicht nur ein reines Thema der Personalabteilung sein, sondern eines, das für die Geschäftsführung entscheidend ist. Wenn die oberste Führungsebene hinter dem Thema steht, dann bewegt sich etwas im Unternehmen. Wenn die oberste Führungsebene nicht hinter dem Thema steht, dann wird es schwierig sein, das konkret umzusetzen. Und dann entsteht diese Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit. Zweitens: Das Thema Vielfalt muss raus aus der „Es ist ein Sozialprojekt“-Ecke. Es ist eben kein Sozial-, kein esoterisches Projekt. Vielfalt ist Fakt. Die Frage ist, wie Unternehmen sich stärker fit machen können, um für die Zukunft wettbewerbsfähig und innovativ zu sein. Und in dem Zusammenhang sind eben vielfältige Teams ausschlaggebend. Drittens: Botschafterinnen und Botschaftern, die dieses Thema in den Unternehmen vorantreiben, sind wichtiger denn je. Wenn Menschen, die selbst einen vielfältigen Hintergrund mitbringen, beispielsweise aus anderen Ländern kommen oder in anderen Unternehmen gearbeitet haben oder aus einer anderen Generation stammen, sichtbar sind, dann erreicht das Unternehmen auch unterschiedliche Zielgruppen. Das fängt an, dass sie auf digitalen Kanälen sichtbar sind, dass man sie auf Veranstaltungen, bei Podiumsdiskussionen sieht.
Wieso genau ist diese Sichtbarkeit von Botschafterinnen und Botschaftern so wichtig?
Onaran: In dem Moment, in dem ein Unternehmen nur auf die Sichtbarkeit der Geschäftsführung setzt, wird es höchstwahrscheinlich nicht alle Zielgruppen erreichen – gerade, was Talente betrifft. Wenn das Unternehmen hingegen auf diversere, auf vielfältigere Profile setzt, und diese Menschen im Unternehmen sichtbar macht, die Projekte verantworten, dann wird es gelingen, auch verschiedene Talente anzuziehen. Dieser Punkt ist enorm wichtig, da es für Unternehmen immer schwieriger wird, junge Talente zu bekommen. Hinzu kommt, dass wir in der Studie auch gerade junge, weibliche Talente gefragt haben, ob das Thema Vielfalt bei ihnen im Hinblick auf die Arbeitgeberwahl eine Rolle spielt. Das haben alle mit ja beantwortet.
Die rund 400 Befragten stammen aus dem Netzwerk von Global Digital Women, sind also vor allem digital-affine weibliche Talente und Führungskräfte. Inwiefern lassen sich die Ergebnisse auf die Gesamtwirtschaft übertragen?
Onaran: Es war ein bewusster Schritt, die Studie in unserem Netzwerk zu machen. Der Hintergedanke war, die zu befragen, die es betrifft – also diejenigen, über die immer gesprochen wird, wenn es um Vielfalt und Digitalisierung geht. Das sind eben die Frauen mit Digitalexpertise oder zumindest einer großen Affinität zum Thema Digitalisierung. Der nächste Schritt wird sein, die Zielgruppe der Studie für die Leute zu öffnen, die mit dem Thema Digitalisierung noch nicht so viele Berührungspunkte haben, und auch für Männer. Es haben zwar auch ein paar Männer an der aktuellen Studie teilgenommen, aber nicht so viele, dass man daraus Kausalitäten ableiten könnte. Diese Folgestudie ist für 2020 geplant, wieder in Zusammenarbeit mit der Uni Flensburg. Die aktuelle Studie war im Grunde ein Auftakt für eine Langzeitstudie.
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