Herr Baas, was ist für Sie und Ihre Krankenkasse die wichtigste Lehre aus der Corona-Pandemie für die künftige Gesundheitspolitik?
Jens Baas: Die Pandemie hat einerseits gezeigt, dass unser Gesundheitssystem sehr leistungsfähig ist und Deutschland die Pandemie damit besser verkraftet hat als viele andere Länder. Doch es wurde andererseits einmal mehr deutlich, wie schlecht unser Gesundheitssystem vernetzt ist. Jeder Hausarzt, jede Fachärztin, jedes Krankenhaus und auch die Krankenkassen, alle arbeiten auf kleinen Inselchen für sich. Daten gibt es, wenn überhaupt, mit großem Zeitverzug – teilweise erst acht bis neun Monate später. Das war am Anfang der Pandemie eine Katastrophe und ist noch immer eines der Hauptprobleme unseres Gesundheitssystems. Die fehlende Vernetzung und die mangelnde Digitalisierung machen unser System nicht nur teurer, sondern schaden auch den Patientinnen und Patienten. Die Suche nach der besten Versorgung ist derzeit oft Glückssache. Für das Gesundheitssystem ist die mangelnde Digitalisierung langfristig eine existenzielle Bedrohung, wie sie andere Branchen längst erleben.
Worin liegt die Gefahr für das Gesundheitssystem?
Baas: Digitalkonzerne wie Amazon, Google und viele andere haben ganze Branchen verändert. Auch unser Gesundheitssystem ist gegen eine „Amazonisierung“ alles andere als immun. Die große Herausforderung lautet, wie reformieren und digitalisieren wir unser Gesundheitssystem rechtzeitig, damit nicht Digitalkonzerne mit sehr viel Geld und vor allem sehr vielen Daten von Kundinnen und Kunden irgendwann die Richtung vorgeben. Dann bestimmen nicht mehr Politik und Gesellschaft die Regeln, sondern eben kommerzielle Player. Ich halte das für eine sehr reale Gefahr. Das können wir nur verhindern, indem wir selbst gute digitale Angebote machen. Das erwarten auch die Menschen. Veraltete und langwierige Prozesse werden die Menschen auch im Gesundheitssystem nicht mehr beliebig lange akzeptieren.
An was denken Sie in der Praxis?
Baas: Ein Beispiel: Wer heute einen bestimmten Arzt sucht, hört sich vielleicht im Bekanntenkreis um. Oder man verlässt sich auf Arztvergleiche oder wählt eben die nächstgelegene Behandlungsmöglichkeit. Das kann nicht die Zukunft sein. Wer online einkauft, schaut sich auch an, was tausende Kundenbewertungen ergeben. Wenn wir diese Lücke nicht mit guten Angeboten füllen, werden das die kommerziellen Digitalkonzerne tun. Zum Beispiel müssen wir die Qualität von Klinikbehandlungen transparent machen, nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für Fachleute. Ein Patient, der sich beispielsweise an der Prostata operieren lassen muss, will wissen, welche Klinik nach der OP die niedrigste Quote an Inkontinenzfällen hat.
Ist nicht ein Hauptproblem, dass die Qualitätsfrage eine völlig untergeordnete Rolle in der Finanzierung des Gesundheitswesens spielt?
Baas: Das ist ein Problem. Deshalb fordern wir, Qualität viel stärker in der Krankenhausfinanzierung abzubilden. Allerdings nach dem Prinzip Belohnung für gute Qualität und nicht mit Abzügen für schlechte. Zahlungskürzungen nach dem Motto „schlecht aber billig“ wären unmoralisch gegenüber den Patienten. Wer dauerhaft mangelhafte Leistung bringt, sollte raus aus der Versorgung.
Wie kann man Qualität messen? Geht das mit dem Datenschutz?
Baas: Auch um Qualität zu messen brauchen wir vernünftige Daten. Durch die Digitalisierung liegen immer mehr strukturierte Daten vor, die uns immer besser ermöglichen, Qualität zu messen. Denkbar ist auch, in der Zukunft die Versicherten zu fragen, ob sie einverstanden sind, ihre digitalen Gesundheitsdaten anonymisiert für solche Qualitätsmessungen bereitzustellen. Wir wissen, dass viele Menschen zu anonymen Datenspenden bereit sind, wenn es ihnen selbst oder anderen hilft. Hinzu kommt beim Thema Qualität: Man darf nicht nur das reine Behandlungsergebnis messen, sondern muss auch Indikation, Vorerkrankungen oder Patientenalter berücksichtigen. Wer einen fitten 20-Jährigen operiert, hat natürlich eher ein besseres Behandlungsergebnis als bei jemandem im hohen Alter.
Führt die jetzige Krankenhausfinanzierung mit dem Fallpauschalensystem nicht generell dazu, dass bei Operationen Masse statt Klasse, Quantität statt Qualität finanziert wird? Selbst Ärzte räumen ein, dass viel zu viel unnötig operiert wird…
Baas: Die Fallpauschalen sind nicht grundsätzlich schlecht, auch wenn es Nachbesserungsbedarf gibt. Wir dürfen nicht so tun, als sei vorher alles besser gewesen. Als ich als Arzt aktiv war, wurden Kliniken noch nach Bettenbelegung mit Tagessätzen finanziert. Mein Chef hätte mich damals vermutlich gefeuert, wenn ich einen Patienten am Freitag entlassen hätte, statt ihn bis Montag unter Beobachtung zu halten. Und leider wurde auch schon damals teilweise aus wirtschaftlichen Anreizen operiert. Dennoch ist die Kritik teilweise berechtigt: Das System setzt zum Beispiel einen Anreiz, sich auf Eingriffe zu spezialisieren, die gut planbar sind und viel Geld bringen. Das bestehende System braucht also eine Reform, um an bestimmten Stellen nachzusteuern.
Wie sollte im Sinne der Patienten eine Reform der Krankenhausfinanzierung aussehen?
Baas: Neben der Qualität müssen auch sogenannte Vorhaltekosten berücksichtigt werden. Denn jeder wünscht sich, dass Krankenhäuser für den Notfall da sind, aber niemand will unnötig hinein. Entsprechend muss man bestimmten Kliniken Geld für die Bereitstellung geben und sie nicht unter Druck setzen, jedes Bett zu belegen, etwa durch unnötige Operationen. Wir müssen uns aber auch ehrlich die Frage stellen, wie viele Betten wir wirklich brauchen. Denn Betten, die nur voll sind, weil sie da sind, schaden den Patientinnen und Patienten. Hinzu kommt die große Frage, wie wir unser Gesundheitssystem finanzierbar und leistungsfähig halten. Diese Frage hat die Politik in Zeiten sprudelnder Beitragseinnahmen vor sich hergeschoben.
Aber braucht das System nicht mehr Geld? Die Pandemie hat den Pflegenotstand in den Krankenhäusern sehr deutlich gemacht…
Baas: Die Arbeit der Krankenschwestern und Krankenpfleger in den Kliniken ist in der Tat schwieriger geworden, verdichteter, anstrengender und stressiger. Wenn man hinterfragt, woran das liegt, bekommt man meist die Antwort: Das liegt am Mangel an Pflegekräften. Ganz so einfach ist es aber nicht. Es gibt internationale Vergleichszahlen, die das veranschaulichen. Wir haben in Deutschland rund 13 Krankenpflegekräfte auf 1000 Einwohner, im europäischen Durchschnitt dagegen nur rund acht. Zugleich muss in Deutschland eine Pflegekraft in Kliniken im Schnitt 13 Patientinnen und Patienten betreuen – in anderen europäischen Ländern sind es deutlich weniger. Das heißt, obwohl wir viel mehr Krankenpflegekräfte pro Einwohner haben, muss jede einzelne viel mehr Menschen betreuen. Das führt natürlich zu Stress und Unzufriedenheit und geht auf Kosten der Patientinnen und Patienten und der Qualität.
Was ist die Ursache?
Baas: Wir haben die höchste Zahl an Krankenhausbetten pro Einwohner in Europa. Und unser Finanzierungssystem führt dazu, dass es sich lohnt, die Betten zu füllen. Weniger Betten bedeuten weniger unnötige Fälle. Ein Überangebot verdünnt die Anzahl der Pflegekräfte. Statt nur zu fragen, wie bekommen wir so viele Pflegekräfte wie möglich ausgebildet, sollten wir also fragen, wie es gelingt, nur so viele Betten zu haben, wie wir brauchen.
Die Kritik an zu vielen Krankenhausbetten gibt es seit Jahrzehnten. Wie wollen Sie die Versorgung gerade im ländlichen Raum sicherstellen?
Baas: Diese Diskussion um weniger Betten führen Politiker sehr ungern. Wer schließt schon gern ein Krankenhaus in seinem Wahlkreis? Das gleicht fast politischem Selbstmord. Deshalb sollten wir hier auf übergeordneter Ebene planen. Eine vernünftige Versorgung auf dem Land erreichen wir nicht, indem wir schlecht ausgestattete Krankenhäuser mit wenig Spezialwissen auf Biegen und Brechen erhalten. Natürlich muss überall in Deutschland die Notfallversorgung sichergestellt sein. Wir brauchen aber für die normale stationäre Versorgung mehr Spezialisierung und neue Versorgungskonzepte. Dazu gehören regionale Gesundheitszentren, in denen niedergelassene Ärzte tätig sind. Diese Zentren können auch Notfallversorgung oder stationäre Aufenthalte bei bestimmten Eingriffen anbieten. Schwere Erkrankungen hingegen sollten in spezialisierten Kliniken behandelt werden. Denn bei schweren Tumorerkrankungen ist nicht Wohnortnähe entscheidend, sondern die Überlebenschance.
Was erwarten Sie von der kommenden Bundesregierung?
Baas: Unser Gesundheitssystem muss langfristig finanzierbar und leistungsfähig bleiben. Dafür sind Strukturreformen wichtig, wie bei den Kliniken. Gerade bei der Finanzierung brauchen wir nachhaltige Lösungen. Es darf nicht jedes Jahr wieder um die Frage gehen, Beiträge oder Staatszuschüsse zu erhöhen. Die Transformation ins digitale Zeitalter muss weiter vorangetrieben werden. Auch das spart perspektivisch Kosten und macht das System vor allem leistungsfähiger. So können wir den Verwaltungsaufwand senken, vorhandene Daten besser verknüpfen und dadurch die Versorgung verbessern. Deshalb erwarte ich von der kommenden Bundesregierung auch, dass sie beim Digitalisierungstempo nicht nachlässt.
Befürchten Sie das tatsächlich?
Baas: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat hier wirklich viel vorangebracht, aber der Weg ist nie zu Ende und die Widerstände sind groß. Digitalisierung heißt immer, dass Dinge transparenter werden. Aber diese Transparenz wollen viele nicht, denn sie macht auch sichtbar, wer gut oder schlecht arbeitet. Auch die Pharmaindustrie hat Angst, dass man sieht, welches Medikament was taugt und welches nicht. Natürlich sagt niemand, er will keine Transparenz. Dann heißt es, das scheitert am Datenschutz oder an zu hohen Kosten.
Zur Person: Jens Baas, 54, arbeitete als Uniklinikarzt vor allem in der Transplantationschirurgie. 1999 wechselte er zur Unternehmensberatung Boston Consulting. Seit 2012 ist er Chef der Techniker Krankenkasse.