Frau Professor Kemfert, erscheint der Klimaschutz angesichts der Corona-Krise nicht plötzlich als Luxusproblem vergangener Zeiten? Auch Fridays for Future ist nicht mehr präsent wie bisher…
Claudia Kemfert: Im Gegenteil, die Corona-Krise zeigt eindrücklich, dass wir in einer starken Demokratie Krisen gemeinsam meistern können, wenn Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft gut zusammenarbeiten. Nun dürfen wir aber nicht in die nächste Krise schlittern. Indem wir Wissenschaft, Forschung, das Gesundheits- und das Sozialwesen stärken, können wir vergleichbare Krisen besser bewältigen. Dafür sollten wir die positiven Erfahrungen der jetzigen Krise verstetigen, etwa Videokonferenzen statt Kurzstreckenflüge oder mehr Radfahren. Gleichzeitig lässt sich dann durch beherztes Umsteuern die bevorstehende Klimakrise abwenden.
Wie sollte denn ein Neustart der Wirtschaft nach der Corona-Krise aus Ihrer Sicht aussehen?
Kemfert: Das diskutierte Konjunkturprogramm wäre nur dann ein „Neustart“, wenn es endlich konsequent auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz setzt. Das bedeutet, dass wir in den Umbau der Energieversorgung hin zu erneuerbaren Energien und hin zur Energieeinsparung investieren müssen. Staatliche Fördermittel sollten daran gekoppelt sein, dass Unternehmen von der Nutzung fossiler Energiequellen auf klimaschonende Technologien umsteigen. Verkehr muss dauerhaft vermieden, verlagert und verbessert werden. Also sollten staatliche Hilfsgelder in klimaschonende Mobilitätsangebote fließen. Sie sollten auch an Bedingungen geknüpft sein: Im Schienenverkehr sollte vermehrt Ökostrom zum Einsatz kommen, im öffentlichen Personennahverkehr mehr Elektrofahrzeuge, aber auch im Schiffs-, Flug- oder Schwerlastverkehr mehr klimaschonende Antriebe. Kurzstreckenflüge sollten komplett abgeschafft, stattdessen Zug-Schnellfahrstrecken ausgebaut werden. Und die Investitionen in die Schieneninfrastruktur müssten mindestens verdreifacht werden.
Derzeit rührt sich in der Energiepolitik einiges: Die Photovoltaik-Förderung wird wohl nicht mehr auf 52 Gigawatt gedeckelt, bei der diskutierten 1000-Meter-Abstandsregel für die Windkraft gab es eine Einigung. Ist das der Befreiungsschlag für die Energiewende in Deutschland?
Kemfert: Es ist ein überfälliger Schritt, aber kein Befreiungsschlag. Die Abstandsregeln verhindern den Ausbau der Windanlagen, wie man in Bayern und Nordrhein-Westfalen sehen kann. Sie verstärken Konflikte, statt die Akzeptanz zu erhöhen. Aber um die Energiewende-Ziele zu erreichen, braucht Deutschland deutlich mehr erneuerbare Energien, auch Windanlagen. Hilfreich wären finanzielle Beteiligungen der Städte und Kommunen statt pauschaler räumlicher Abstand. Wichtig sind mehr gesetzliche Spielräume und Möglichkeiten für Bürgerbeteiligung. Nur dann ist ein konsequenter Kohleausstieg samt Versorgungssicherheit realistisch.
Die Landwirtschaft erlebt derzeit Trockenheit, der Winter war sehr warm. Der Klimawandel wird ernster genommen. Was halten Sie von alternativen Ideen zur Klimarettung? Neue Reaktoren, Wälder, das Düngen der Meere oder der unterirdischen Speicherung des Klimagases CO2?
Kemfert: Neue Reaktoren sind der ganz falsche Weg: teuer, ineffizient und hoch riskant. Reaktoren sind in keiner Weise nachhaltig. Auch die CO2-Speicherung ist ineffizient und teuer. Das Düngen der Meere, Spiegel im All und ähnliche technologische Neuerungen aus der Wundertüte werden von denen propagiert, die den Umstieg aufhalten wollen. Ich bin skeptisch, dass wir so die komplexen Probleme in den Griff bekommen. Unterm Strich führt kein Weg daran vorbei: Die Emissionen müssen runter, und zwar schnell und umfassend! Dafür brauchen wir keine neuen Erfindungen. Die Instrumente sind alle da: eine Vollversorgung aus erneuerbaren Energien, Energiesparen und eine nachhaltige Landwirtschaft.
Verstehen Sie auch Kritiker, die beklagen, dass die Ökostrom-Umlage und auch andere Abgaben stark steigen – und damit der Strompreis?
Kemfert: Absolut. Doch man kritisiert den Falschen. Der Strompreisanstieg ist politisch gewollt und wird durch das Konstrukt der EEG-Umlage künstlich geschaffen. So kommt es zu dem paradoxen Ergebnis: je billiger die erneuerbaren Energien, desto höher der Verbraucherpreis – erst recht, wenn die Versorger den günstigen Börsenstrompreis nicht an die Privathaushalte weitergegeben, sondern klammheimlich die eigene Marge erhöhen. Ökostrom dient als Buhmann. Würde man einen CO2-Mindestpreis einführen, bliebe der Börsenpreis stabil und die Umlage sinkt. Kurzfristig könnte man auch die Stromsteuer senken und die EEG-Industrieausnahmen aus dem Staatshaushalt finanzieren. Noch besser wäre eine EEG-Reform.
Wie könnte diese EEG-Reform Ihrer Meinung nach aussehen?
Kemfert: Die Energieversorgung der Zukunft ist dekarbonisiert, dezentral, demokratisch und digital: Wind, Sonne, Wasser, Biomasse und Geothermie wirken dezentral und im Team. Wenn wir sie alle samt Speicheroptionen für Energie klug miteinander verzahnen, entsteht ein virtuelles Großkraftwerk. Das ermöglicht eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien. Dafür benötigen wir mehr Künstliche Intelligenz, intelligente Netze und Speicher. Hier kann sich Deutschland als technisch innovatives Land der Ingenieure beweisen und Anreize setzen, solche zukunftsweisenden Lösungen zum Einsatz zu bringen. Ideen und Lösungen gibt es genug, aber es fehlen die gesetzlichen Rahmenbedingungen, damit zum Beispiel Energie-Speicher überhaupt Teil des Geschehens sein dürfen. Ein „EEG 4.0“ würde solche Kombilösungen fördern.
Große Hoffnungen ruhen für Verkehr und Heizen auf dem Thema Wasserstoff. Welches Potenzial sehen Sie hier? Wie sollte die Regierung mit dem Thema umgehen? Die Wasserstoff-Strategie lässt ja gerade auf sich warten…
Kemfert: Ohne Ökostrom gibt es keinen klimaschonenden Wasserstoff. Wasserstoff ist ungeheuer kostbar: Um eine Einheit Wasserstoff-Energie zu gewinnen, müssen wir sieben Einheiten von Ökostrom einsetzen. Wir streiten ja jetzt schon um jedes Windrad – wollen wir das siebenmal so stark tun, nur um Wasserstoff zum Einsatz zu bringen? Das wäre ineffizient. Unser Motto muss sein: Effizienz und Nachhaltigkeit zuerst! Wo es möglich ist, sollte Ökostrom als Erstes direkt eingesetzt werden, also im Gebäudesektor in Wärmepumpen und im Verkehrssektor in der Elektromobilität – für Bahnen, Busse, E-Autos, Bikes und Roller. Falls es keine Alternativen gibt, etwa im Schwerlastbereich, im Schiffs- und Flugverkehr oder im Industriebereich, beispielsweise zur Stahlherstellung, dann könnte sich der Einsatz des wertvollen Wasserstoffs lohnen, aber eben nur dort.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Im März hatten andere Ökonomen Ihre Arbeit angezweifelt, unter anderem Justus Haucap von der Uni Düsseldorf. Wie ging es Ihnen dabei? Was haben Sie daraus gelernt?
Kemfert: Sachliche Diskussionen, auch mit Leidenschaft geführt, sind ein wesentlicher Teil aller Wissenschaft. Solche Diskurse werden üblicherweise in den wissenschaftlichen Fachforen geführt, mittels hochrangiger wissenschaftlicher Fachartikel, auf Workshops oder Tagungen. Wer diesen Weg nicht wählt, handelt unredlich und mit anderer Absicht. Seriöse Wissenschaft geht anders.
Zur Person: Claudia Kemfert, 51, leitet seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und ist seit 2009 Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit.
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