Bei Autoherstellern stehen regelmäßig die Fabriken still, Waschmaschinen sind knapp und Spielekonsolen ein dreiviertel Jahr nach ihrem Erscheinen kaum erhältlich wegen des Chipmangels. Aber was ist der Grund dafür, Herr Kleinhans?
Jan-Peter Kleinhans: Grundsätzlich wird jeder Halbleiter in drei Schritten hergestellt: Erst das Design, also die technische Gestaltung, dann die Fertigung, schließlich werden beim Packaging ein Gehäuse und Kontakte angebracht. Beim Packaging mangelt es unter anderem an einigen der 300 bis 400 notwendigen Chemikalien. Zum anderen sind 50 verschiedene Arten von sogenanntem Equipment notwendig, also Fertigungsmaschinen. Bis vor einiger Zeit gab es hier keine Engpässe - dann kam Corona und der Bedarf an Notebooks, Tablets, Unterhaltungselektronik, aber auch an Prozessoren etwa für Videokonferenz-Server explodierte. Das wirbelte die Lieferketten komplett durcheinander.
Nun hat die Pandemie vor eineinhalb Jahren begonnen, aber die Knappheit besteht noch immer. Woran liegt das?
Kleinhans: Eine Fab, also eine Chipfabrik, kostet heute etwa 15 Milliarden Euro. Diese Investition birgt enormes Risiko, gerade in einer Situation wie der Pandemie. Eine geringe Auslastung verursacht massive Verluste. Die Auslastung vieler Fabs lag schon vor dem Nachfrageboom bei über 80 oder 90 Prozent, weil alles darunter unwirtschaftlich ist. Deshalb laufen jetzt alle am Anschlag. Die Hersteller können die Fertigungskapazitäten nicht von heute auf morgen erhöhen. Außerdem beliefern viele der Chemikalien-Zulieferer wie BASF, Merck oder Linde nicht nur den Halbleiter-Markt, sondern alle möglichen Kunden. Nur weil die Chipnachfrage vorübergehend boomt, bauen die kein neues Werk.
Aber bauen die Unternehmen denn jetzt Fabriken?
Kleinhans: Ja, TSMC, der größte Auftragsfertiger der Welt, baut massiv aus in Taiwan und den USA. Samsung erweitert seine Fertigungskapazität in Südkorea und USA und auch Intel plant, in den USA und vermutlich auch in Europa neue Fabs zu bauen und bestehende auszubauen. Global Foundries stockt in Singapur und ebenfalls in den USA auf. Aber das dauert eben drei bis fünf Jahre, bis Chips aus diesen neuen Fabs kommen. Die Erweiterung einer bestehenden Fab geht schneller. Aber selbst wenn die Fertigung steht, dauert es ein halbes Jahr, bis ein Chip produziert ist. Die aktuelle Knappheit in der Automotive-Branche behebt das also nicht. Und der Bedarf wird steigen: Durch das Internet der Dinge sind immer mehr Geräte mit Chips ausgestattet, E-Autos werden mehr Chips brauchen als Verbrenner, und die zunehmende Bedeutung der Cloud-Technologie kommt noch dazu.
Dass der Chip-Bedarf steigen würde, galt abgesehen von der Pandemie als absehbar. Haben sich die Halbleiter-Hersteller also verkalkuliert?
Kleinhans: Das ist schwierig zu sagen. Es gab eine weitere überraschende Dynamik. Die Unterhaltungselektronik boomte, bei Autos herrschte Flaute. Erstere Branche bestellte massig Chips, Autohersteller hielten sich zurück. Als sich der Automarkt viel schneller erholte als erhofft, bestellten auch sie. Aber dann sagten die Halbleiter-Unternehmen wegen der großen Auslastung durch die Unterhaltungselektronik: Sorry, kommt in einem halben Jahr wieder. Der Autobranche ist zum Verhängnis geworden, dass sie auf Just-in-time-Produktion setzt, also ihre Lagerhaltung auf ein Minimum reduziert. Sie bezahlten mit stillstehenden Fabriken dafür, keinen Chipvorrat vorgehalten zu haben. Der Chipmangel der Autohersteller ist selbstverschuldet. Toyota hat es anders gemacht, hat seine Zulieferer Lager unterhalten lassen und steht jetzt weitaus besser da als andere.
Werden die Autohersteller und andere Branchen die Just-in-time-Produktion überdenken?
Kleinhans: Das muss die Lehre aus dieser Situation sein. Unternehmen werden jetzt schauen, Chip-Mangel: Dudenhöffer sieht schwere Fehler bei AutoherstellernHalbleiter-Industriein welchen Bereichen ihre Lieferkette anfällig ist, weil sie etwa nur auf einen Zulieferer setzen, obwohl mehrere das Produkt bieten. Diese Pandemie mag bald überwunden sein, aber wir beobachten auch Naturkatastrophen wie in Texas, wo Eisstürme das Stromnetz zum Ausfall gebracht haben. In Japan sind zwei wichtige Halbleiter-Fabriken abgebrannt. Solche Ereignisse nehmen zu und bedrohen die globalen Lieferketten. Die Wirtschaft muss ihre Konsequenzen daraus ziehen und ihre Lieferketten absichern.
Sogenannte Kryptowährungen wie Bitcoin werden mit der Rechenleistung von Grafikkarten geschöpft. Ihr Preis steigt rasant, wenn der Kurs der Währung wächst. Inwieweit befeuert das den Chipmangel?
Kleinhans: Die Chips von Grafikkarten basieren auf den modernsten Fertigungstechnologien. Für den letzten Arbeitsschritt, das Packaging, ist für sie eine Chemikalie namens ABF notwendig, die nur von einem einzigen japanischen Unternehmen hergestellt wird und extrem knapp ist. Insofern tragen die Kryptowährungen in diesem Segment der äußerst leistungsfähigen Chips einen nennenswerten Beitrag zum Mangel bei. Grafikkartenhersteller versuchen sogar, das Mining, also Schürfen von Kryptowährungen, mit ihren Grafikkarten technisch zu unterbinden.
Der große Chiphersteller Intel hat kürzlich angekündigt, erst 2023 mit einem Ende der Mangelsituation zu rechnen. Ist das realistisch?
Kleinhans: Das halte ich auch mit Blick auf die anderen Unternehmen für eine gute Einschätzung. Es kann sein, dass sich die Situation in einzelnen Bereichen schon vorher entspannt - denn neben dem Bau neuer Fabriken läuft auch die Erweiterung bestehender, die schneller geht. Es gibt allerdings ein großes Aber. Die Firmen bauen logischerweise hauptsächlich Fabs für neue Technologien. Die Chips, die die Bremse oder den Scheibenwischer unserer Autos steuern, basieren aber auf jahrzehntealter Technik. Dafür braucht man keinen modernen Halbleiter. Und weil keine Fabriken für solche Alt-Technologie gebaut wird, könnte die Knappheit für Autohersteller fortbestehen - außer, die Autohersteller reagieren selbst.
Was könnten sie tun?
Kleinhans: Die Fahrzeuge brauchen eine neue technologische Basis. Diese Autos sind organisch gewachsen. Eine neue Funktion kam nach der anderen. Das Ergebnis sind unzählige verschiedene Chips, obwohl deutlich weniger modernere alle Aufgaben übernehmen könnten. Tesla hat seine Autos von Grund auf neu erschaffen und so etwas wie ein zentrales elektronisches Hirn eingebaut statt vieler einzelner Chips. Die Hersteller könnten die Zahl der Chips langfristig deutlich reduzieren, wenn sie die Funktionen zentralisieren. Das Design moderner Chips kostet Geld, ist aber wichtig für die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen.
Der Chipmangel erhöht also den ohnehin vorhandenen Transformationsdruck auf die Autohersteller.
Kleinhans: Absolut, denn Konkurrenten verändern sich auch. Der taiwanesische Technologiekonzern Foxconn will eine universale Automobil-Plattform bauen: Das Grundgerüst eines Autos, auf das andere Hersteller dann ihre Technik und Karosserie bauen. Dabei baute Foxconn bisher keine Autos. Schon jetzt kaufen sie Halbleiter-Fabriken, um ihre Lieferkette zu kontrollieren. Deshalb müssen auch die bisherigen Automobilhersteller durch diesen Schock aufgeweckt werden.
Die EU will ihr Schattendasein in der Branche mithilfe einer Halbleiter-Allianz beenden. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das funktioniert?
Kleinhans: Das kommt auf die Zielsetzung an. Europäische Chiphersteller können aktuell nicht eigenständig modernste Chips fertigen, geschweige denn entwickeln. Die EU will die Fertigung älterer Chiparchitekturen stärken, außerdem Fertigungen internationaler Chiphersteller für modernste Chips der sogenannten 2-Nanometer-Architektur ansiedeln. Fabriken dafür gibt es bislang nur in Taiwan und Südkorea. Das beherrschen nur zwei außereuropäische Unternehmen, auf die man dabei angewiesen wäre. Das kann klappen, aber es handelt sich eben um reine Fertigung.
Sind es die Förder-Milliarden der EU wert, obwohl Europa damit technologisch kaum auf Augen kommt?
Kleinhans: Auch eine Fabrik bringt Vorteile mit sich: Universitäten forschen dafür, Zulieferer siedeln sich an, die Region profitiert von Arbeitsplätzen. Es entsteht ein industrielles Ökosystem um die Fertigung. Aber auf Augenhöhe mit anderen Regionen der Erde kommt Europa dadurch nicht. Insofern muss man sich als Europäer schon fragen: Ist das der beste Einsatz des Geldes? Müssten wir nicht Chips entwickeln können, weil wir in diesem Bereich komplett abgehängt sind?
Wie realistisch ist es denn, dass Europa bei der Entwicklung wieder konkurrenzfähig wird?
Kleinhans: Es wird auf absehbare Zeit kein europäisches Nvidia, Qualcomm oder AMD geben. In neueren Bereichen wie der Beschleunigung künstlicher Intelligenz oder bei Hochleistungsrechnern haben europäische Unternehmen Potenzial. Diese Sektoren verändern sich rasant, sodass neue Firmen Fuß fassen können. Bosch wird zwar nicht anfangen, auf einmal Supercomputer zu bauen. Aber genau deshalb braucht es in Europa gute Strukturen für Start-ups, die bei neuen Technologien in den Wettbewerb einsteigen können. Davon ist leider wenig zu sehen.
Bringt das Vorhaben der EU-Kommission Linderung für den Chipmangel in der Industrie?
Kleinhans: Nein, da sprechen wir von einem anderen Zeithorizont. Den Chipmangel hat die Industrie selbst verschuldet. Da kann die Politik kurzfristig wenig machen. Sie kann nur langfristig Anreize für Unternehmen setzen, die Lieferketten langfristig resilienter gegen externe Schocks, wie Naturkatastrophen oder Pandemien, zu machen.