Herr Pferdt, Sie arbeiten bei Google und bringen Menschen dort – und außerhalb von Google – bei, wie sie kreativ und innovativ sein können. Wie erleben Sie die Corona-Pandemie, was macht das mit Menschen und Unternehmen?
Frederik Pferdt: Vielleicht wäre es ganz gut, mit einem Bild zu antworten – dem Bild eines Bootes. Wir alle können uns als Schiffe verstehen: Individuen als kleinere Schiffe, Start-ups als etwas größere, mittelständische, große Unternehmen oder Regierungen als Tanker. Wir alle haben uns vor der Pandemie im sicheren Hafen bewegt, die Leinen waren festgezogen. Es hat zwar immer ein Wind durch die Häfen geweht, aber es war noch nie der Fall, dass plötzlich alle Leinen losgerissen wurden. In diese Situation sind wir aber mit der Pandemie geraten: Die Leinen wurden losgerissen – alle Boote treiben auf dem Meer. Und jetzt zeigt sich, welche Boote überhaupt seetauglich sind. Welche haben sich in der Vergangenheit aus dem Hafen herausbewegt? Vielleicht zeigt sich jetzt auch, wie die Besatzungen vorbereitet waren. Welche innere Denkhaltung haben die Crew-Mitglieder, wie reagieren sie, wenn sie bei starkem Wind auf dem Meer navigieren müssen? Wollen sie gleich wieder zurück in den Hafen oder sagen sie, wir fahren hinaus in den Nebel und versuchen, einen anderen Hafen zu erreichen? Und das macht diese Zeit für mich so spannend, weil viel entstehen kann.
Sie sehen also vor allem eine Chance in der Corona-Pandemie?
Pferdt: Absolut. Es ist unsere Chance als Menschheit etwas anders zu machen, zu lernen und langfristig etwas besser zu machen. Das ist die Denkhaltung, die ich schon lange versuche, zu vermitteln. Ich versuche, den Menschen Lust auf Zukunft zu machen, dass sie sagen: Okay, es verändern sich nicht nur Dinge, sondern ich bin auch verantwortlich dafür, was morgen, übermorgen und in den nächsten Jahren passiert. Ein Punkt ist dabei die Digitalisierung, das virtuelle Zusammenarbeiten – auch im Bereich Bildung. Meine drei Kinder genießen diese digitale Zusammenarbeit, den virtuellen Austausch und das Lernen. Viele haben natürlich Bedenken, weil der reale, der persönliche Austausch fehlt. Das streite ich nicht ab – das fehlt mir auch. Aber ich finde, wir sollten die Situation als Chance sehen und uns überlegen, wie wir unser Leben anders gestalten können. Das ist für mich der Spirit: Heute die Zukunft ausprobieren.
Wenn wir noch mal zu dem Bild von Anfang zurückkommen: Jeder Mensch ist für sich ein kleines Ruderboot. Heißt das dann übertragen: Vor allem die Boote, die es schon in ruhigen Zeiten häufiger mal gewagt haben, auf die offene See zu rudern, stehen heute für besonders kreative und innovative Menschen?
Pferdt: Ja. Ich glaube, es hängt davon ab, wie die Crew des Schiffs trainiert ist. Das ist das Thema, das mich beschäftigt. Wie kann ich bei dieser Crew eine Denkhaltung schaffen, die in jedem Problem – etwa, dass viel Wind herrscht – eine Chance sieht. Aber viele sehen im Wind erst mal etwas Negatives und sagen: „Der Wind bläst zu sehr, ich weiß nicht, wie das Boot reagiert.“
Wie sollte die Besatzung denn stattdessen reagieren?
Pferdt: Ich würde es umdrehen und sagen: Endlich bläst der Wind mal ordentlich und wir können schnell nach vorne kommen. Gerade beobachte ich das auch: Die Pandemie und die Veränderungen, die sie mit sich bringt, wirken als Katalysator, als Antrieb. Aber man muss eben auch lernen, die Segel richtig zu setzen, wenn mal Antrieb da ist. Wir brauchen also eine andere Denkhaltung bei den Menschen. Sie müssen sagen: Ich nutze den Wind als Chance, obwohl ich vielleicht noch gar nicht weiß, in welche Richtung es gehen soll. Zukunft ist per Definition mehrdeutig und ungewiss, aber wir müssen erst mal losfahren. Dann finden wir heraus, wie schnell das Boot fahren kann und was wir brauchen, um uns im Wind zurecht zu finden? Wir lernen alle etwas in dieser Pandemie. Und wir lernen, wie es anders gehen kann. Das ist für mich unheimlich faszinierend.
Sie sind also der Überzeugung, dass Kreativität keine Typsache ist, sondern, dass man sie erlernen kann?
Pferdt: Genau, ich glaube, dass Kreativität in uns allen existiert. Aber man muss eine Innovationsfähigkeit als Denkhaltung, als Einstellung, trainieren und lernen und ausprobieren. Wenn es etwa um Experimentierfähigkeit geht – das hat ja viel mit Innovationskraft zu tun – dann muss man mutig sein, ein Risiko eingehen. Das kann jeder üben. Im Kleinen kann ich sagen: Ich gestalte heute mal mein Homeoffice um. Im Größeren: Ich versuche, meine Produkte anders anzubieten. Das alles sind Experimente. Man braucht Mut, sie auszuprobieren. Diesen Mut kann man lernen, das Selbstbewusstsein entwickeln. Die Pandemie hat dazu geführt, dass Kreativität, Innovation und Experimentierfreudigkeit in vielen Branchen bemerkenswert hoch sind. Aber sie gibt auch Aufschluss darüber, was verbessert werden kann. Bei diesen Dingen muss man den Mut haben, wieder neue Experimente anzustoßen und gleichzeitig mit Optimismus sagen: Es wird schon was dabei herauskommen, zumindest werden wir was dabei lernen.
Gerade in einer Krise, die ja für viele auch wirtschaftlich unsicher ist, könnte es doch genauso sein, dass viele sagen: Jetzt probiere ich bestimmt nichts neues aus, jetzt mache ich das, was ich schon kann. Was wäre Ihr Gegenargument?
Pferdt: Eigentlich bleibt ja keine Wahlmöglichkeit. Wir alle sind von der Pandemie betroffen – im Kleinen und im Großen. Das heißt, wir müssen uns alle verändern. Wir können entweder reaktiv sein und diese Veränderung auf uns einwirken lassen. Das würde ich nicht empfehlen. Oder wir können proaktiv sein und sagen: Ja, ich bin dafür verantwortlich, wie Zukunft aussieht, ich möchte einen Beitrag leisten und anpacken. Das kann im Kleinen sein, indem man sagt: Ich versuche mich jetzt auf Dinge einzulassen. Man muss nicht immer die Person sein, die an allem einen Kritikpunkt findet. Stattdessen sagt man: Das hat doch schon ganz gut funktioniert. Was haben wir daraus gelernt? Lass es uns morgen noch ein Stückchen besser zu machen. Das macht mir Spaß, zu gucken: Wie kann ich die Leidenschaft fürs Neue wecken, ohne die Ängste, die natürlich vorherrschen, in den Vordergrund zu rücken.
Sich auf neue Situationen einzulassen, wäre also einer Ihrer Tipps, wie man innovativer und experimentierfreudiger wird. Was hilft noch?
Pferdt: Empathie spielt für mich eine sehr große Rolle. Empathie beschreibt die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln. So kann man verstehen, wie eine andere Person denkt. Unternehmer können sich in ihre Kunden hineinversetzen, um besser zu verstehen, was sind die Bedürfnisse und Probleme? Wenn ich empathisch bin, kann ich bessere Lösungen anbieten.
Was können andere Unternehmen von Google lernen?
Pferdt: Wir stellen uns nicht als Google hin und sagen: Ihr müsst alle von uns lernen. Wir vertreten den Ansatz, dass wir uns auf Dinge einlassen und Dinge ausprobieren und dann jedem unsere Erfahrungen bereitstellen. Aber wir haben uns der Mission verschrieben, dass wir alle Menschen erreichen wollen und deshalb stehen bei uns Themen wie Gleichberechtigung, Inklusion und Diversität ganz oben auf der Agenda. Ich hoffe – und sehe das auch schon – dass diese Prinzipien auch bei anderen Firmen ankommen. Denn natürlich hat das auch wieder etwas mit Innovationsfähigkeit zu tun: Wenn man verschiedenste Perspektiven einbringt, dann sieht man Dinge ganz anders und es kommen bessere Ideen zustande. Aber dazu muss man erst mal die verschiedenen Perspektiven einladen, dass sie sich äußern und austauschen können. Das ist vielleicht etwas, was wir ein Stück vorantreiben, was andere Organisationen mitnehmen können.
Zur Person: Fredrik Pferdt kommt ursprünglich aus Ravensburg, lebt jetzt aber mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Kalifornien. Er ist Chief Innovation Evangelist bei Google, das heißt: Er treibt die Themen Kreativität und Innovation bei Google – und auch in anderen Unternehmen – voran.
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