Frau Bär, wenn Sie von eins „gar nicht“ bis zehn „vollkommen“ einschätzen müssten, wie digital Deutschland ist, was wäre Ihre Wertung?
Dorothee Bär: Die Frage würde ich so pauschal gar nicht beantworten wollen. Es gibt Bereiche, in denen ich uns eine Zehn geben würde, und in anderen eine schlechtere Wertung. Unsere Schulen sind zum Beispiel nicht sehr digital. Die Forschung zu Künstlicher Intelligenz etwa an der TU München tendiert gegen zehn.Wir haben nicht in allen Bereichen eine Zehn, aber auch nicht nur Einser.
Würden Sie China in allen Bereichen eine Zehn vergeben? Das Land gilt als Vorreiter bei der Digitalisierung.
Bär: Bei Überwachungssoftware könnte man den Chinesen eine Zehn geben. Wenn ich an die Software aber unser Verständnis von Menschenrechten anlege, müsste ich ihnen eine Null geben. Unsere Regierung bringt etwa parallel zur KI-Strategie auch eine Datenethikkommission auf den Weg. So etwas sucht man in China vergeblich. Weil ganz viel neu ist und mit einer großen Wucht über uns hereinbricht.
Ist das ein deutscher Standortvorteil, dass wir auf ethische Fragen achten?
Bär: Davon bin ich fest überzeugt. Digitalisierung ist ja nicht nur eine technische, sondern vor allem eine soziale Revolution. Wir leben in einem Zeitalter der Exzesse. Das lässt sich mit dem Beginn der Industrialisierung vergleichen, als Kinderarbeit stattfand, als es keine Fünf-Tage-Woche, keine Gewerkschaften, keine Arbeitnehmerrechte gab.
Die deutsche Bevölkerung ist beim Thema Digitalisierung nicht gerade euphorisch. Woher kommt die Angst?
Bär: Wir sind ein Land, das viel zu verlieren hat. Wir stecken nicht in der Krise und müssen etwas ändern, damit es uns besser geht. Und man muss bedenken, wo wir herkommen. Nach dem Krieg haben wir uns Wohlstand erarbeitet. Jede Generation hat gesagt: Hoffentlich geht es der nächsten besser. Jetzt ist eher die Angst da: Hoffentlich geht es den Kindern mal nicht schlechter. Die Angst hat auch mit Besitzstandwahrung zu tun. Das, was man hat, will man weitergeben. Aber Digitalisierung bedeutet Disruption. Und die will niemand. Diesen Schritt aus der Komfortzone kann man eher gehen, wenn man nicht viel zu verlieren hat. Und – wie gesagt – wir haben viel zu verlieren.
Was tun Sie, um den Menschen diese Angst zu nehmen?
Bär: Mein Traum wäre es, mit jedem Bürger ein Eins-zu-eins-Gespräch zu führen. Es sind zwar viele Ängste da, aber die sind größtenteils diffus. Wir haben die allgemeine Angst, dass Arbeitsplätze wegfallen. Aber wenn es um den eigenen konkreten Arbeitsplatz geht, stellen wir fest: Die Arbeit hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verändert und weiterentwickelt und meist die Menschen mit ihr. Oder man hat Angst, überwacht zu werden. Und wenn ich frage: Von wem und bei welchen Daten? Dann sitzen da Menschen, die bei jedem Preisausschreiben mitmachen, die ihre Payback-Karte jeden Tag nutzten. Dann muss ich erklären, dass Daten schon immer gesammelt wurden. Und nicht zum Wohle wie beispielsweise bei Gesundheitsdaten.
Es gibt aber Menschen, bei denen ist die Angst real. Helferjobs etwa werden durch die Digitalisierung weniger. Was sagen Sie Menschen, die diesen Job machen?
Bär: Dass Jobs wegfallen, hatten wir in der Industrialisierung schon. Seit Jahrzehnten schrauben zum Beispiel Roboter das zusammen, was mal Mechaniker gemacht haben. Auch jetzt werden bestimmte Tätigkeiten wegfallen. Deshalb muss das Stichwort Lebenslanges Lernen mit Leben gefüllt werden. Wir können nicht nur auf die betriebliche Weiterbildung setzen. Fortbildungen müssen passgenauer werden. So viele Arbeitskräfte haben wir nicht, dass wir es uns leisten können, jemanden nicht mitzunehmen.
Deutschland gilt als Land der Tüftler. Wenn es um die Digitalisierung geht, wollen wir lieber alles so lassen, wie es ist. Gibt es keine Visionäre mehr?
Bär: Dazu möchte ich eine Studie der Uni Wien zitieren. Sie hat unserer Bevölkerung attestiert, dass wir von allen Ländern auf der Welt den Wandel am wenigsten wollen. Aber in der Studie heißt es auch, dass die deutsche Bevölkerung diejenige ist, die mit Wandel am besten umgehen kann. Geht das verloren? Es wird schon versucht, das abzutrainieren. Vieles wird erst mal als total verrückte Idee hingestellt. Aber wenn man sieht, wo Autos erfunden wurde, wo die erste Eisenbahn und die erste führerlose U-Bahn gefahren ist, dann war das bei uns. Das ist ja auch beim Thema Flugtaxi so: Da sind wir mit drei deutschen Unternehmen Weltspitze. Wir können da Weltmarktführer hervorbringen.
Aber trotzdem: Wenn man Gründer nach ihren Vorbildern fragt, dann sagen die Elon Musk, Steve Jobs, ein Deutscher taucht nicht auf.
Bär: Bei Schauspielern wird auch eher jemand aus Hollywood genannt. Die Amerikaner sind viel besser im Marketing als wir. Das Betreiben von Personenkult ist Deutschland eher fremd. Das sieht man auch an Wahlkämpfen. Oder schauen sie auf unsere Regierungschefin: Das ist eine extrem fleißige, pragmatische und hochintelligente Frau, die sehr hart arbeitet. Da gibt es keinen aufgeblasenen Personenkult. Ein anderes Beispiel: Wann bekommt man bei uns Geld für eine Idee? Wenn die Idee gut ist. Wann bekommt man in den USA an Wagniskapital? Da sind die Ideen irrelevant. Die meisten Kapital-Geber glauben nur an die Typen. Aber Typen sind bei uns nicht erwünscht.
Sie sind ja schon ein Typ.
Bär: Finden Sie?
Ja.
Bär: Ich finde mich ganz normal.
Aber Sie sind jemand, der gerne mal provoziert.
Bär: Ich provoziere aber nicht absichtlich. Ich bin wie ich bin und manche provoziert das.
Bräuchte man nicht mehr Politiker, die ihre eigene Meinung haben und die sagen: Ich bin eine Marke?
Bär: Das sagen Sie und Ihre Kollegen immer. Man braucht wieder so Typen wie Strauß und Wehner. Aber wenn jemand aus der Reihe tanzt, wird er einen Kopf kürzer gemacht.
Ärgert Sie das?
Bär: Ich ärgere mich über so gut wie nichts mehr. Ich bin im Laufe der Jahre sehr zeitgeizig geworden. Ich habe drei Kinder und bin voll berufstätig, wenn ich mich in der wenigen Zeit, die ich habe, über etwas ärgern würde, das würde mir Lebensqualität stehlen.
Mussten Sie das erst lernen?
Bär: Bevor ich Mutter geworden bin, war ich nicht so entspannt. Meine erste Tochter hat mich eine sehr große Gelassenheit gelehrt. Ich habe auch das Gefühl, dass ich seitdem eine bessere Politikerin bin. Es ist auch nichts, wenn nur die Arbeit zählt, wenn nur Politik zählt und man nichts anderes im Leben hat. Man braucht eine gewisse Distanz.
Sie sind als Frau, die eine politische Karriere macht, eher eine Ausnahme. War der Weg bisher anstrengend?
Bär: Es ist doch immer und überall eher anstrengend als Müßiggang. Und ich finde es suspekt, wenn man sich nicht anstrengen muss. Ich konnte zum Beispiel noch nie gut mit Leuten arbeiten, die null ehrgeizig sind. Es gab schon schwierigere Phasen. Ich habe Abstimmungen verloren. Ich bin aus dem Bundestag rausgeflogen. Aber das macht einen stärker. Also ja, es war ein schwerer Weg. Rückblickend frage ich mich manchmal, wie ich manches geschafft habe, gerade mit einem ganz kleinen Kind. Aber es geht.
Sie sagen oft, Sie wollen die Frage wie sie Familie und Beruf vereinbaren, erst beantworten, wenn Ihr Mann die Frage auch mal gestellt bekommt. Warum?
Bär: Weil ich es unfair finde, dass nur Mütter danach gefragt werden. Mein Mann ist einer der ganz wenigen Politiker, bei dem man weiß, was seine Frau beruflich macht. Jeder weiß, dass ich keine Hausfrau bin. Trotzdem fragt ihn niemand, wie er das mit unseren drei Kindern macht. Das wollen alle nur von mir wissen.
Könnten Sie nicht ein Vorbild sein, wenn Sie Ihr Vereinbarkeitsgeheimnis verraten?
Bär: Da gibt es kein Geheimnis. Ich musste zum Beispiel neulich morgens nach München. Genau an dem Tag hat mein Sohn beschlossen, er geht nur in die Schule, wenn ich ihn bis in Klassenzimmer bringe. Das will er sonst nie. Ich bin noch nie so spät nach München losgefahren. Dann kann man im Auto sitzen und sich denken: Oh Gott, ich komme zu spät. Oder man sitzt im Auto und denkt: Es ist mir lieber, ich komme zu spät, als dass mein Sohn weinend in die Schule geht. Und ich stelle fest, dass Mütter überperfektionistisch sind.
Wie meinen Sie das?
Bär: Mütter setzen sich gegenseitig unter Druck. Beim Sommerfest im Kindergarten veranstalten sie regelrechte Kuchenbackwettbewerbe. Da geht es darum, wer backt den tollsten Kuchen, wer ist die tollste Mutter? Da habe ich entschieden, ich bringe den Kaffee mit. Ich weiß zwar wie geredet wird: Natürlich kann die nicht so toll backen, die ist ja auch nie da. Aber ich habe entschieden, mich nicht mehr beurteilen zu lassen. Dieser Wettstreit macht einen nicht zur besseren Mutter. Entweder man macht sich frei von dem Druck, oder man macht sich wahnsinnig.
Würden Sie sich mehr Verständnis für Mütter in der Politik wünschen?
Bär: Das liegt auch an einem selbst. Bei meinem ersten Kind habe ich oft gesagt: Ich muss noch zu einem Termin, wenn ich sie selbst ins Bett bringen wollte. Wenn ich zugegeben habe, dass ich mein Kind ins Bett bringen will, haben viele Kollegen gesagt: Bleib doch, dein Kind geht auch ohne dich ins Bett. Irgendwann habe ich entschieden, ich entschuldige mich nicht mehr wegen etwas anderen. Ich sage einfach wie es ist. Ich mache auch sonntagabends keine Termine, da will ich daheim bei meiner Familie sein. Wenn man das eine Zeit lang macht, wird das irgendwann akzeptiert.
Wirklich?
Bär: Wenn man mal nicht da ist, wird das auch als Schwäche ausgenutzt. Jetzt ist es leichter, weil die Kinder größer sind. Aber ich habe alle Phasen, von der Geburt bis zur Einschulung im aktiven Politikerleben mitgemacht. Und ich kenne viele Kolleginnen, die nach der Geburt aus dem Bundestag raus sind. Das wollte ich nicht. Ich finde, wir brauchen Mütter im Bundestag, nicht nur Männer.
Bräuchte die CSU mehr Frauen wie Sie, die konservativ und feministisch sind?
Ich bin wie ich bin und manche provoziert das. Wir brauchen insgesamt mehr Frauen. Wir sind eine Volkspartei, wir brauchen alle Frauen. Wir brauchen ledige Frauen, wir brauchen Mütter, wir brauchen Kinderlose, wir brauchen Akademikerinnen, Arbeiterinnen. Nicht nur in den Parlamenten, auch als Parteimitglieder.. In einer idealen Welt hätten wir 50 Prozent weibliche und 50 Prozent männliche Mitglieder. Aber wenn ich sehe, wie schwer es ist, Frauen zu begeistern, sich für den Gemeinderat aufstellen zu lassen. Da müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten.
Zur Person: Dorothee Bär, 41, sitzt seit 2002 für die CSU im Bundestag. Sie kommt aus Ebelsbach im unterfränkischen Landkreis Haßberge. Ihr Mann, Oliver Bär, ist Landrat im Landkreis Hof. Das Paar hat drei Kinder.