Die Erleichterung war groß. Endlich hatten Volkswagen-Mitarbeiter wieder einen Grund zur Freude. Zur Feier des Tages gab es Mini-Hamburger in grünen Semmeln, so weit geht mittlerweile die Liebe der Konzern-Verantwortlichen zur Ökologie.
Mitten drin bei der Vorstellung des neuen Elektroautos ID.3 auf der Automesse IAA am 9. September in Frankfurt war VW-Chef Herbert Diess, der Mister „Hoffnung“ für Volkswagen. Schließlich treibt er als Chef des Unternehmens die Elektro-Wende lustvoll und konsequent voran, so als wollte der gebürtige Münchner alle bösen Wolfsburger Diesel-Schatten der Vergangenheit vertreiben.
Der 60-Jährige hat sich zum Ober-Umweltschützer bei VW aufgeschwungen. Der von BMW geholte Manager sucht Streitgespräche mit jungen Klimaschützerinnen wie Tina Velo – und das nicht als herablassender Vater-Typ, sondern auf Augenhöhe. In Sprache und Gesten grenzt sich Diess somit von seinem patriarchalischen Vor-Vorgänger Martin Winterkorn, 72, ab.
Volkswagen: Auch Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch und Martin Winterkorn angeklagt
Und dann das: Seit Dienstag steht fest, dass der aktuelle Volkswagen-Lenker ausgerechnet gemeinsam mit Winterkorn von der Staatsanwaltschaft Braunschweig angeklagt wird. Auch der VW-Aufsichtsratsvorsitzende Hans Dieter Pötsch, 68, der von 2003 bis 2015 VW-Finanzvorstand war, ist mit von der Anklage-Partie. Den drei Managern wird vorgehalten, Aktionäre vorsätzlich zu spät darüber informiert zu haben, dass der Konzern als Folge des Diesel-Skandals finanzielle Strafzahlungen in Milliardenhöhe zu leisten hat. Damit hätten die drei beschuldigten Manager rechtswidrig Einfluss auf den Börsenkurs genommen.
Hintergrund: Die Staatsanwälte führen in dem Fall nicht den Vorwurf des Betruges gegen VW-Verantwortliche ins Feld, sondern der Marktmanipulation. Dabei handelt es sich alles andere als um ein Kavaliersdelikt, geht es doch um den Vorwurf, dass die drei Matadore ihre Kenntnis um die wegen des Abgas-Skandals auf VW zurollenden Zahlungen früher in eine Ad-hoc-Mitteilung, also Pflicht-Nachricht, hätten fassen müssen. Damit wären die Akteure an den Kapitalmärkten rechtzeitig informiert gewesen. Das Unterlassen einer solchen Nachricht kann deshalb strafbar sein, weil Anleger VW-Aktien im Wissen um die hohen Risiken etwa nicht gekauft oder rascher abgestoßen hätten.
Den Börsianern kann also ein Vermögensschaden entstanden sein. Deshalb sollten und müssen Vorstände einer Aktiengesellschaft darauf erpicht sein, möglichst mit offenen Karten zu spielen. Im Extremfall drohen ihnen sogar Freiheitsstrafen. Die Finanzaufsicht BaFin verweist darauf, dass es sich bei einer vorsätzlichen Manipulation, die sich auf den Börsenpreis auswirkt, um eine Straftat handele, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden könne. Natürlich gelte nach wie vor die Unschuldsvermutung für Winterkorn, Pötsch und Diess, beeilten sich die Staatsanwälte hinzuzufügen. Aus der 636 Seiten langen Anklageschrift geht hervor, Winterkorn habe spätestens seit Mai 2015, Pötsch seit 29. Juni des Jahres und Diess seit 27. Juli 2015 Kenntnis von den finanziellen Auswirkungen der Diesel-Affäre in den USA gehabt. Die genauen Daten sind enorm wichtig, wurde der ganze Sachverhalt doch erst am 18. September 2015 von den US-Behörden veröffentlicht. Das Volkswagen-Trio hätte demnach früher die Katze aus dem Sack lassen müssen.
Hier beginnt zumindest für Diess eine Geschichte von Macht, Pech, ja Tragik. Denn der einstige BMW-Mann war erst zum 1. Juli 2015 vom VW-Aufsichtsrat als Chef der Marke VW auch in den Konzernvorstand beordert worden. Schließlich wurde der smarte Bayer dann am 13. April 2018 Chef der gesamten Volkswagen-Gruppe. Er ist seitdem für die Geschicke des ganzen Imperiums, zu dem auch Audi in Ingolstadt gehört, verantwortlich.
Dudenhöffer und Bratzel: VW muss an Diess festhalten
Deutschlands bekannteste Auto-Experten, die Professoren Ferdinand Dudenhöffer und Stefan Bratzel, sind sich im Gespräch mit unserer Redaktion einig: „Diess hat schlicht Pech gehabt.“ Wäre der Manager später in die VW-Führungsspitze vorgedrungen, hätte er nun nicht den Vorwurf der Marktmanipulation am Bein. Das wirkt fast tragisch. Doch die Branchenkenner hoffen, dass – sollte es zu einem Prozess kommen – die Richter die besonderen Umstände für den damals noch nicht lange bei VW arbeitenden Diess würdigen. Hinter den Kulissen ist zu hören, dass es für den neuen Mann schwer gewesen wäre, sich gegen die mächtigen Platzhirsche Winterkorn und Pötsch zu stellen und diese sozusagen als VW-Frischling zu einer sofortigen Ad-hoc-Mitteilung an die Börsianer zu zwingen. Jeder, der einmal neu in ein Unternehmen gekommen ist, kann das nachvollziehen. Dudenhöffer wie Bratzel sind von Diess überzeugt. Sie fordern: „VW muss an ihm festhalten.“
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