Die Bilder von applaudierenden Menschen rührten die Herzen, die Worte standen dem in nichts nach. „Wer in diesen Tagen an einer Supermarktkasse sitzt oder Regale befüllt, der macht einen der schwersten Jobs, die es zurzeit gibt. Danke, dass Sie da sind für ihre Mitbürger und buchstäblich den Laden am Laufen halten“, lobte Kanzlerin Angela Merkel im März vorigen Jahres. Damals stand die Corona-Pandemie am Anfang. Bis heute hat sich die Lage in vielen Bereichen gebessert, dies gilt jedoch nicht für die Beschäftigten, denen die Kanzlerin und viele andere damals ein Loblied sangen. Im Gegenteil.
„Die Einzelhändler haben im Pandemiejahr 2020 ihr höchstes Umsatzplus seit 1994 verbucht, für die Beschäftigten hingegen gab es warmen Applaus“, kritisierte die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Susanne Ferschl, im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie blickt ärgerlich auf die Zahlen, die unter anderem aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage ihrer Fraktion stammen. Demnach bekommen offenbar 46 Prozent aller Beschäftigten im Einzelhandel weniger als 12 Euro brutto die Stunde ausgezahlt. Im Osten liegt die Quote bei 53, im Westen bei 45 Prozent. Auch in den finanziell eher besser gestellten Bundesländern gibt es kaum Abweichungen von dieser Quote. In Baden-Württemberg etwa müssen 42 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten mit weniger als 12 Euro brutto auskommen, in Bayern sind es 43 Prozent.
Linken-Politikerin Ferschl: "Eine Klatsche für die Helden des Alltags"
Diese Zahlen sind vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht worden und basieren auf einer umfangreichen Unternehmensbefragung. Sie beziehen sich auf die Verdienststrukturerhebung (VSE) von 2018. Neuere Zahlen mit umfangreichen Daten zu den Bruttostundenlöhnen gibt es nicht, weil die VSE nur alle vier Jahre veröffentlicht wird. Aus Branchenberichten und weiteren statistischen Daten wird aber ersichtlich, dass sich die Niedriglohn-Quote seitdem eher noch verschlechtert hat.
„Zwar gilt der Handel nun als systemrelevant, kaufen können sich die Beschäftigten mit ihren Armutslöhnen davon jedoch nichts“, kommentierte Ferschl die Zahlen und ergänzte: „So wird aus Applaus eine Klatsche für die Helden des Alltags.“
Den Statistiken zufolge geht ein niedriger Lohn meistens mit der Tarifflucht von Arbeitgebern einher. Den Einzelhandel trifft es dabei besonders empfindlich, die Bundesregierung verweist auf Zahlen des IAB-Betriebspanels. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ging der Anteil der Tarifbeschäftigten in der Gesamtwirtschaft von 60 Prozent in 2010 auf 57 Prozent in 2015 und 51 Prozent in 2020 zurück. Die Kurve bei den Tarifbeschäftigten im Einzelhandel stürzte wesentlich steiler ab: Von 50 Prozent im Jahr 2010 auf 40 Prozent in 2015. Im vergangenen Jahr lag der Anteil nur noch bei mageren 29 Prozent. In der Rückkoppelung auf die Löhne zeigt sich, dass Beschäftigte in diesen Betrieben deutlich schlechter verdienen als solche mit Tarifvertrag.
Beschäftigte im Einzelhandel besonders weit abgehängt
Ferschl, die als langjährige Gewerkschafterin und Betriebsrätin Erfahrung gesammelt hat, bemängelt, dass „Niedriglöhne im Einzelhandel System haben“. Lohndumping sei das Ergebnis massenhafter Tarifflucht. Ein Befund, den so auch die Bundesregierung schon vor Jahren erhoben hat. „Unternehmen sollten mehr Tarifverträge mit den Gewerkschaften schließen“, forderten Union und SPD im Juni 2016 bei einem Spitzentreffen von Gewerkschaften und Arbeitgebern im brandenburgischen Meseberg. Neben Kanzlerin Angela Merkel (CDU) saß damals als Wirtschaftsminister der SPD-Politiker Sigmar Gabriel. Zwar wurden seitdem etwa die Rechte von Betriebsräten gestärkt. Schwarz-Rot unternahm gerade den Versuch, Pflegekräfte in die Tarifbindung zu bekommen. Doch der ganz große Wurf, die Zahlen zeigen es, blieb aus - und die Beschäftigten im Einzelhandel sind offenbar besonders weit abgehängt.
Ferschl sieht den Grund in einem „unerbittlichen Preiskampf, der zulasten der Beschäftigten, Produzenten und Kunden geht“. Gute Arbeitsbedingungen seien Kostenfaktoren, die sich die Branche schlicht nicht leisten wolle. Die Lösung liegt nach Ansicht der Linken-Politikerin klar auf der Hand: „Die Bundesregierung kann diesem einzig auf Profit gesteuerten Treiben ein Ende setzen und den Tarifvertrag dieser Branche für allgemein verbindlich erklären.“
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