Am 25. Juni 2020 bestätigt das Amtsgericht München, „dass die Wirecard AG, Aschheim, heute um 17.05 Uhr einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingereicht hat“. Damit wird der wohl größte deutsche Wirtschaftsskandal der vergangenen Jahrzehnte amtlich. Das deutsche Ex-Vorzeige-Fintech, zwischenzeitlich mal höher bewertet als die Deutsche Bank, ist pleite. 1,9 Milliarden Euro, die in der Bilanz ausgewiesen wurden, fehlen. Und abgängig ist auch ein gewisser Jan Marsalek, Chief Operating Officer, der Mann fürs Tagesgeschäft, der die angeblich auf den Philippinen gebuchten Wirecard-Milliarden suchen wollte, dessen Spur sich dann auf dem Flug nach Minsk, Belarus, verliert. Ein paar Stunden vorher hatte der Österreicher eine Maschine am Flughafen Vöslau-Kottingbrunn in der Nähe von Wien bestiegen. Heute, ein Jahr danach, ist er nach wie vor auf der „Red-Notice“-Liste von Interpol, gesucht mit internationalem Haftbefehl.
Wo er ist? Irgendwo in Russland? Unterstützt von Geheimdienstkontakten, die der 41-Jährige hat und die ihm reichlich zugeschrieben werden? Ist er überhaupt noch am Leben?
Dauern die Wirecard-Ermittlungen noch Jahre?
Die Staatsanwaltschaft München I beteiligt sich nicht an Spekulationen. Auf Anfrage bestätigt eine Sprecherin lediglich: „Die Spur auf einen Aufenthalt in Russland ist nur eine von vielen, denen intensiv nachgegangen wird.“ Gut zwei Dutzend Beamte ermitteln wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges, Untreue, unrichtiger Darstellung, Marktmanipulation und inzwischen auch wegen Geldwäsche und Insiderhandel.
Beschuldigt sind Marsalek und ein Reihe weiterer Personen. Wie viele genau, bleibt offen aus den viel zitierten „ermittlungstaktischen Gründen“. Unter den Beschuldigten ist auch Markus Braun, der asketisch anmutende Ex-Wirecard-Chef, der nach wie vor in Augsburg-Gablingen in U-Haft sitzt. Die Behörde betont, dass bei allen Beschuldigten „ergebnisoffen in alle Richtungen“ ermittelt würde. Für die – neben Braun sind es noch zwei weitere hochrangige Wirecard-Mitarbeiter in U-Haft – gilt der Beschleunigungsgrundsatz. Ansonsten aber heißt es für die zu bewältigende Aufgabe: „Alle Aspekte des Tatkomplexes Wirecard zu ermitteln ist tatsächlich eher eine Frage von Jahren als von Monaten.“
Jörg Langner ist Sachgebietsleiter beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden und dort unter anderem zuständig für die Öffentlichkeitsfahndung. Er selbst ist mit dem Fall Marsalek nicht betraut, darum kümmert sich das Präsidium in München. Es gilt das Tatortprinzip, folglich ist die Staatsanwaltschaft München Herrin des Verfahrens. Langner hat aber jahrelange Erfahrung und dutzende „Zielfahndungen“ als Verantwortlicher durchgeführt. An seinen ersten Fall erinnert er sich gut. Das war 2003. Es ging um einen Mehrfachmörder. Es gab eine Anfrage aus dem Ausland, der Mann konnte festgesetzt werden. Langner sagt: „Das war eine Mischung aus Erleichterung und Stress.“ Dieses Gefühl vergisst man nicht. Er liebt seinen Beruf, wie er sagt, und die Festnahme von Tätern gehört dazu: „Ich wollte mittendrin dabei sein.“ Deshalb wurde er Zielfahnder.
Die Erfolgsquote von Zielfahndern liegt bei 99 Prozent
Deren Tätigkeit ist im Alltag natürlich weniger abenteuerlich als in Serien dargestellt. Mehr als 75 Prozent sei reine Büroarbeit, erklärt der Polizist. Aber: Die Tätigkeit erfordert eine hohe Professionalität, hohes Verhandlungsgeschick, die Fähigkeit, Risikofaktoren sofort zu identifizieren. Denn, sagt Langner: „Bei der Festnahme ist man das letzte Glied zwischen der polizeilichen Ermittlungsarbeit und dem Täter. Das geht auch heute nicht digital, sondern nur analog. Man muss ausgebildet sein und wissen, wie man gefährliche Verdächtige handhabt.“ Auch wenn sich die meisten, die er festgesetzt habe, kooperativ gezeigt hätten und nicht gewalttätig geworden seien.
Die Erfolgsquote, betont Langner, sei hoch. Sie liege bei rund 99 Prozent. „Im Großen und Ganzen bekommen wir fast alle.“ Denn: „Kein Mensch verschwindet spurlos.“ Aber es gibt die, die ihre Flucht sehr professionell vorbereiten, Unterstützung haben oder über große Geldmittel verfügen. Das macht es einfacher, „aber letztlich sehr aufwendig“. Eine Flucht, unter das Radar kommen, sei die Abkehr von allem, was man vorher hatte. „Das ist für alle eine sehr große Herausforderung. Und eine dieser vielen tausend Kleinigkeiten, die da dran hängen, die man beachten muss, da verzweifeln viele dran, weil sie nicht alle Punkte auf Dauer so professionell beachten und abstreifen können.“ Es liege in der Natur des Menschen, dass er nicht von heute auf morgen sein altes Leben zurücklassen könne. „Darauf bauen wir, dass die Disziplin nachlässt.“
Aber was ist, wenn Marsalek unter das eine Prozent fällt, wenn er einer derjenigen ist, die nicht erwischt werden. Man kann sich vorstellen, wie er irgendwo an einem weißen Strand hockt, mit einer extrem gut verschlüsselten Internetverbindung seine Verfolger verfolgt. Und vielleicht macht er irgendwann einen dieser Fehler. Widersteht nicht der Versuchung, sich beim Slimfit-Hemd-Schneider seines Vertrauens eine Maßanfertigung machen zu lassen. Es bleibt Spekulation.
Die Forderungen der Gläubiger belaufen sich derzeit auf über 14 Milliarden Euro
Die Ermittlungen laufen. Erst diese Woche gab es weitere Durchsuchungen. Denn es geht um Milliarden. Die entstandene Schadenssumme steht noch nicht fest. Klar ist aber, dass beim zuständigen Insolvenzverwalter Michael Jaffé bisher 12733 Forderungen angemeldet wurden, die sich auf rund 14,3 Milliarden Euro belaufen. Es könnte auch noch mehr werden. Nicht nur die Ermittler, auch die Gläubiger hätten also sicher die ein oder andere Frage an Marsalek. Für den allerdings – bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung – die Unschuldsvermutung gilt.
Der Bundestagsabgeordnete Fabio de Masi, der für die Linke im Wirecard-Untersuchungsausschuss ist, schätzt den Ex-Manager Marsalek so ein: „Er ist hochintelligent. Aber es ist undenkbar, dass er sein Karussell an Scheingeschäften rund um den Erdball ohne die Unterstützung von Geheimdiensten durchgezogen hat.“