Als vor ziemlich genau neun Jahren, im März 2011, mehrere Reaktorblöcke des Kernkraftwerks Fukushima schmolzen, war in Deutschland schnell klar: Die Antwort kann nur der Ausstieg aus der Atomenergie sein. Kanzlerin Angela Merkel läutete die endgültige Energiewende ein, neben dem Atom- kam auch der Kohlestrom auf den Index. Seitdem läuft die Suche nach Alternativen, um den ungeheuren Energiehunger des Industriestandorts Deutschland zu stillen. Dem grünen Wasserstoff, bei dessen Herstellung kein CO2 entsteht, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Bundesregierung tut sich aber schwer bei der Umsetzung.
Bundeskabinett wollte längst eine nationale Wasserstoff-Strategie beschließen
Das Bundeskabinett wollte schon längst eine nationale Wasserstoffstrategie beschließen, was allerdings schon mehrfach verschoben wurde. Im Gespräch mit unserer Redaktion nennt Forschungsministerin Anja Karliczek die Corona-Krise als Grund. Das Virus habe „die politische Agenda völlig verändert. Wir alle müssen unser Leben und unsere Arbeitsabläufe an die besondere Situation anpassen“, sagte sie.
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass innerhalb der Bundesregierung noch keine Einigkeit über die Strategie besteht. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat einen Entwurf mit 31 Maßnahmen vorgelegt. Der Strategiebaukasten besteht aus den üblichen Instrumenten: staatliche Hilfen für die Forschung, Subventionen für die Produktion. Altmaiers Parteikollegin Karliczek geht das nicht weit genug. Sie besteht unter anderem auf einen Koordinator, der, mit eigenen Vollmachten ausgestattet, die Sache vorantreiben soll. Auch Taskforces will die Ministerin einsetzen. Sie sollen sich mit einzelnen Themen beschäftigen und die Strategie umsetzen, etwa indem sie Investoren zusammenbringen.
Energiequelle Wasserstoff - die Zeit wird knapp
„Wenn wir das enorme Potenzial voll nutzen wollen, müssen alle in der Regierung an einem Strang ziehen und sich auf gemeinsame Ziele verständigen“, forderte Karliczek und machte gleichzeitig Druck. Die Zeit sei knapp, „wenn wir bis 2050 den Aufbau einer neuen Branche erreichen wollen“, erklärte sie und betonte: „Wir müssen den Prozess des Einstiegs in eine Wasserstoffwirtschaft immer wieder antreiben.“
Karliczeks Ungeduld ist nachvollziehbar, denn es geht um viel. In einem Kurzpapier vom November letzten Jahres betont die Regierung, für eine erfolgreiche Energiewende brauche es „neben erneuerbaren Energien, die wir direkt nutzen können, oder Strom aus erneuerbaren Quellen weitere Bausteine: Dies sind die gasförmigen Energieträger, insbesondere CO2-freier Wasserstoff“.
Wasserstoff soll Jobmotor für Deutschland werden
Neben der Bedeutung für den neuen deutschen Energiemix soll grüner Wasserstoff auch den Jobmotor in Deutschland antreiben. Der könnte beginnen zu stottern, wenn durch die Digitalisierung Stellen wegfallen. Nach Karliczeks Einschätzung würde der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft diese Delle nicht nur ausgleichen, er hätte sogar „das Potenzial für einen neuen Job-Boom in Deutschland – insbesondere für die vom Strukturwandel betroffenen Regionen“. Rund 470.000 neue Stellen könnten demnach in der deutschen Wirtschaft entstehen.
Bei der Produktion des grünen Wasserstoffs schielt die Regierung allerdings eher ins Aus- denn ins Inland. Der Energiebedarf dafür ist hoch und es dürfte schwer werden, in Deutschland ausreichend Strom zusammenzubekommen – in einem Land, in dem mittlerweile gegen fast jedes neue Windrad gekämpft wird. Die Regierung arbeitet deshalb bereits daran, „Wasserstoff-Partnerschaften mit Australien und afrikanischen Ländern zu entwickeln, in denen bekanntlich die Sonne stärker scheint als in Deutschland“, wie Karliczek erklärt. Die Wasserstoff-Produktion etwa in Afrika sei um ein Vielfaches effektiver, meint die Ministerin, spricht von einer „Win-win-Situation für alle Seiten“ und betont gleichzeitig, dass beim Aufbau solcher Partnerschaften natürlich auch darauf geachtet wird, ob die Länder politisch stabil seien.
Noch, sagt Karliczek, blockiert der Kampf gegen das Coronavirus, dass die Wasserstoffstrategie weiter oben auf die politische Agenda rückt. „Die anderen Themen“, so erklärt die Ministerin, „müssen jetzt so, wie es die Umstände zulassen, also eher im Hintergrund vorangetrieben werden.“ Zuverlässige Planungen seien derzeit schwer. Aber, so Karliczek: „Ich rechne im Frühjahr mit einer Verabschiedung im Kabinett.“
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