Auf den Straßen sind mehr Elektroautos unterwegs, die Bundesregierung hat ihre Klimaschutzpläne verschärft, die Industrie will mit Strom bald in großen Mengen umweltfreundlichen Wasserstoff erzeugen. Experten hatten bereits seit längerer Zeit gewarnt, dass die Prognosen der Regierung für den Stromverbrauch zu niedrig sind. Jetzt hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, CDU, die Zahlen für das Jahr 2030 nach oben korrigiert. Doch Fachleute bezweifeln weiter, dass die Pläne ausreichend sind.
Bisher ging die Bundesregierung davon aus, dass der Stromverbrauch 2030 bei rund 580 Terawattstunden liegen wird. Auf dieser Basis sei auch das aktuelle EEG, das Erneuerbare Energien Gesetz, beschlossen worden. „Seither hat sich einiges geändert“, sagte Altmaier, der bei dem Forschungsinstitut Prognos ein neues Gutachten in Auftrag gegeben hat. Nach einer ersten Einschätzung werde der Stromverbrauch 2030 zwischen 645 und 665 Terawattstunden liegen – im Mittelwert 655 Terawattstunden. Die genaue Vorhersage soll im Herbst folgen.
Peter Altmaier: Höherer Strombedarf durch E-Autos, Klimapläne und Wasserstoff
Gleich mehrere Entwicklungen treiben den Stromverbrauch nach oben: Die Bundesregierung hat kürzlich ihre Klimaschutzpläne verschärft. Dazu kommt, dass die Bundesregierung die EEG-Umlage perspektivisch abschaffen will, die 6,5 Cent pro Kilowattstunde beträgt. Sinken die Stromkosten, wird es attraktiver, Häuser mit strombasierten Wärmepumpen zu beheizen. Der Strombedarf steigt auch durch die Elektromobilität. Schließlich sieht Altmaier eine „große Dynamik“ in der Herstellung von Wasserstoff mithilfe von Strom.
Damit, einen höheren Stromverbrauch festzustellen, ist es nicht getan. Es fehlen bisher die Konsequenzen, erklärt Thorsten Lenck, Projektleiter für Strommarktdesign und erneuerbare Energien bei der Denkfabrik Agora Energiewende. „Die Herausforderung ist es, trotz steigenden Stromverbrauchs die Klimaziele im Energiesektor einzuhalten“, sagt er. Denn stammt am Ende der zusätzliche Strom aus Kohle- oder Erdgas-Kraftwerken, würde dies die CO2-Emissionen nur weiter in die Höhe treiben. Das wäre das Gegenteil von Klimaschutz. Nötig wird statt dessen mehr Strom von Wind und Sonne.
Agora Energiewende: "Anlagen müssen auch gebaut werden"
Neue Zahlen allein auf dem Papier genügen dabei nicht, warnt Lenck. Der Ausbau zum Beispiel in der Windkraft hinkte in der Vergangenheit häufig den Plänen hinterher. „Wir brauchen also nicht nur neue Ausbauziele im EEG, die Anlagen müssen auch gebaut werden und ans Netz kommen“, betont er. Dafür müsse der Boden bereitet werden: „Genehmigungsverfahren müssen einfacher werden, es muss Rechtssicherheit für die Investoren geben, bei den Menschen vor Ort müssen wir Akzeptanz für Windkraft und Photovoltaik schaffen.“
Dass jetzt mehr Strom aus erneuerbaren Energien kommen muss, weiß auch Altmaier. „Wir werden die Ausbaupfade für erneuerbare Energien erhöhen müssen“, sagte er und deutete an, wohin die Reise gehen könnten: Zum einen sei man „unzufrieden mit den Fortschritten bei der Windenergie an Land“. Eine Lösung soll sein, mit den Bundesländern verbindliche Flächenziele für die Windkraft festzulegen. In Bayern bremst hier die 10H-Abstandsregel. Zum anderen könne er sich Investitionszuschüsse für Photovoltaikanlagen und Wärmepumpen vorstellen, wenn Privatleute ihre Häuser sanieren.
Aber wird all dies reichen? Fachleute sind skeptisch. Sie rechnen teilweise mit einem noch höheren Strombedarf. „Trotz der stetig steigenden Effizienz elektrischer Geräte ist zu erwarten, dass der Stromverbrauch deutlich ansteigen wird“, warnt der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft: Er geht für 2030 von einem Strombedarf von etwa 700 Terawattstunden aus – also deutlich mehr als in Altmaiers neuer Prognose.
Claudia Kemfert: Ausbauziele mindestens vervierfachen
Die Wissenschaftler der Gruppe „Scientists for Future“ schätzen, dass der Bedarf an elektrischer Energie 2030 sogar 875 Terawattstunden betragen könnte.
Professorin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung hat deshalb Zweifel, dass Altmaiers neue Prognose ausreichend ist. „Es ist überfällig, dass die Regierung die Ausbauziele der erneuerbaren Energien zumindest leicht erhöht“, sagte sie unserer Redaktion. „So verhindert sie das Schlimmste und es wird nicht noch mehr wertvolle Zeit vergeudet. Und doch laufen wir noch immer sehenden Auges in eine Ökostromlücke, da die Ausbauziele erneuerbarer Energien noch immer nicht ausreichen“, warnt Kemfert. Die Regierung rechne noch immer mit einem zu geringen Strombedarf. „Selbst wenn man annimmt, dass Strom möglichst effizient und nicht verschwenderisch genutzt wird, wird der Strombedarf durch Elektromobilität und dem Einsatz von Wärmepumpen im Gebäudesektor deutlich höher steigen als die Bundesregierung annimmt“, sagt sie. Europa habe kürzlich die Klimaziele verschärft, die Emissionen müssen somit in Deutschland noch schneller als bisher vereinbart sinken und die erneuerbaren Energien noch schneller ausgebaut werden.
Bei der Agora Energiewende geht man davon aus, dass der jährliche Zubau an erneuerbaren Energien verdreifacht werden müsse.
Kemfert und ihr Team greifen nochmals deutlich höher: „Wie wir in einer neuen Studie zeigen, müssen die Ausbauziele mindestens vervierfacht beziehungsweise versechsfacht werden“, sagt sie. Pro Jahr müssten mindestens 20 Gigawatt Photovoltaik und knapp 10 Gigawatt Windenergie gebaut werden müssen, um eine Ökostromlücke zu vermeiden und die Klimaziele zu erreichen.
Um die gleiche Strommenge zu produzieren, werden nach Ansicht von Energie-Experte Lenck zumindest weniger Anlagen als früher benötigt. „Ein modernes Windrad kann 5 bis 10 mal mehr Strom erzeugen als zu Anfang der Energiewende“, sagt er. Statt 500 Kilowatt ist heute eine Leistung von 5 Megawatt Stand der Technik. „Es gäbe also weniger Windräder für die gleiche Strommenge, aber größere.“ Auch die Photovoltaik habe Fortschritte gemacht. „Hat man früher vier Hektar Fläche für ein Megawatt Leistung benötig, ist es heute nur noch rund ein Hektar“, sagt er.