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Sirplus: Dieses Berliner Start-up rettet Lebensmittel vor dem Mülleimer

Sirplus

Dieses Berliner Start-up rettet Lebensmittel vor dem Mülleimer

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    Sirplus kauft seine Waren auch auf dem Großmarkt ein.
    Sirplus kauft seine Waren auch auf dem Großmarkt ein. Foto: Kathrin Harms

    Eigentlich ist die East Side Mall in Berlin-Friedrichshain, nahe dem letzten verbliebenen Stück der Berliner Mauer, ein Einkaufszentrum wie jedes andere. Mehr als 100 Läden, auf den ersten Blick nichts Besonderes. Und doch gibt es darin ein Geschäft, in dem sich regelmäßig Szenen wie die folgende abspielen: "Immer wieder mal kommen Kunden auf mich zu, die sich nicht so richtig im Laden umgeguckt haben", erzählt Anton Hartwig, Filialleiter eines kleinen Lebensmittelmarktes in dem Einkaufszentrum. "Die sagen: Ich hab hier ein Produkt gefunden, bei dem das Mindesthaltbarkeitsdatum schon sehr lange verstrichen ist. Haben Sie das vielleicht noch frisch im Lager?"

    Nein, hat er nicht. Und ja, manches im Laden ist lange "abgelaufen". Was nicht auf ein Versäumnis hindeutet, sondern zum Konzept von Sirplus gehört. Anton Hartwig erklärt es Kunden gern und geduldig. Denn die befinden sich in einem "Rettermarkt". Einem Supermarkt, der Lebensmittel vor der Verschwendung rettet. Der Filialleiter sieht darin ein Gegenkonzept zum übermäßigen Konsum, zu einem "Konsumtempel".

    Sirplus ist eine junge Firma, ein sogenanntes "Social Impact Start-up". Es möchte etwas bewirken. "Social Impact", das heißt: Einflussnahme auf die Gesellschaft.

    Das Start-up Sirplus will Lebensmittel vorm Müll retten

    Das verbindet Sirplus mit den Studentinnen Caro und Franzi aus Oberbayern. Die zogen bis vors Bundesverfassungsgericht, um das "Containern" zu entkriminalisieren. Vor wenigen Wochen aber scheiterten sie in Karlsruhe mit ihren Verfassungsklagen. Auch weiterhin dürfen weggeworfene Lebensmittel nicht aus dem Müllcontainer eines Supermarktes gefischt werden. Der Gesetzgeber dürfe grundsätzlich das Eigentum an wirtschaftlich wertlosen Sachen strafrechtlich schützen, erklärte das Gericht. Die Studentinnen reagierten enttäuscht. Und kämpferisch. "Mag nun vielleicht ein juristisches Verfahren an seine Grenzen gelangt sein, darf doch nicht die Dringlichkeit eines gesellschaftlichen Wandels zurückstecken", erklärten sie.

    Vor zwei Jahren hatten die beiden in Olching im Kreis Fürstenfeldbruck entsorgte Lebensmittel aus einem verschlossenen Supermarkt-Container geholt und mussten sich deshalb "wegen besonders schweren Falls des Diebstahls" verantworten. Ihre Aktion brachte ihnen je acht Stunden Sozialarbeit bei der örtlichen Tafel ein – allerdings gelang es ihnen auch, auf ein bisher eher vernachlässigtes Thema aufmerksam zu machen und eine politische Diskussion in Gang zu setzen.

    Denn die Verschwendung von Lebensmitteln ist groß. Die Natur- und Umweltschutzorganisation WWF schätzt, dass allein in Deutschland pro Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel "verloren gehen". 42 Prozent dieser Nahrungsmittelverluste passieren demnach während und kurz nach der Ernte, bei der anschließenden Weiterverarbeitung sowie im Groß- und Einzelhandel.

    Sirplus, das Berliner Start-up, möchte mit seinen Märkten dazu beitragen, die Verlustposten, auf die Endverbraucher wenig Einfluss haben, zu reduzieren. Die Firma kauft Lebensmittel zu einem niedrigen Preis auf und bietet sie, zu einem ebenfalls – mehr oder minder stark – reduzierten Preis in seinen Läden und einem Onlineshop an. Die Zielgruppe ist jung, urban, an Nachhaltigkeit interessiert, idealistisch.

    "Wie viele Lebensmittel schon auf dem Weg zum Supermarkt verloren gehen, ist den meisten Leuten total schleierhaft", sagt Raphael Fellmer, einer der Gründer von Sirplus. Als ihm das 2009 bewusst wurde, löste es etwas in ihm aus. Er wurde zum "Mülltaucher", ernährte sich also fortan von Essen aus Supermarktabfallcontainern. 2011 gründete er die "Lebensmittelretten"-Bewegung, die sich später mit der Internetplattform foodsharing.de zusammenschloss und heute in Deutschland, Österreich und der Schweiz hunderttausende Mitglieder zählt. Die Idee der Initiative Foodsharing: Lebensmittel teilen anstatt sie wegwerfen.

    Sirplus verkauft "abgelaufene" Waren an eine junge, urbane Zielgruppe

    Fellmer hätte sich über einen großen Erfolg freuen können. Trotzdem fühlte er sich irgendwann hilflos: "Ich habe gemerkt, dass es allein mit Foodsharing noch hunderte Jahre dauern würde, bis wir alle Lebensmittel gerettet haben." Er wollte das Nischenphänomen Lebensmittelretten in die breite Öffentlichkeit bringen.

    Doch wie sollte das funktionieren? Etwa, indem man entsorgtes Essen ins Supermarktregal stellt? Was nach einer verrückten Idee klang, begeisterte immer mehr Menschen. Im April 2017 startete Sirplus ein erstes Crowdfunding im Netz, eine Spendensammel-Aktion. Bis Juni 2017 sollten 50.000 Euro zusammenkommen, um den ersten Markt eröffnen zu können. Es wurden gut 90.000 Euro, überwiesen von rund 1700 Unterstützern.

    2018 betrug der Gesamtumsatz nach eigenen Angaben 1,2 Millionen Euro, inzwischen betreibt Sirplus sechs Läden in Berlin und hat etwa 100 Mitarbeiter. Seit der Gründung vor drei Jahren, so hat es Sirplus errechnet, konnte die Firma fast drei Millionen Kilogramm Lebensmittel retten. Unförmiges, nicht der Norm entsprechendes Obst und Gemüse. Produkte, deren Verpackungen kleine Fehler haben. Überproduktionen. Restposten. Vor allem aber Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum unmittelbar bevorsteht oder überschritten wurde. Was kein Problem sei, da dieses Datum "sehr konservativ" gewählt werde, sagt Filialleiter Anton Hartwig. "Joghurt beispielsweise ist bei ordnungsgemäßer Kühlung noch Wochen nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum einwandfrei."

    Doch was ist, wenn sich ein Kunde den Magen verdirbt? Sobald das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, haftet nicht mehr hauptsächlich der Hersteller für das Produkt, sondern in erster Linie der Verkäufer. Das ist ein Grund, warum konventionelle Supermärkte "abgelaufene" Produkte aus den Regalen nehmen. Der andere Grund: Sie wollen nicht den Eindruck erwecken, minderwertige Ware anzubieten. Sirplus sorgt in Sachen Haftung vor, indem es eine Lebensmittelhygieneexpertin hinzuzieht. Sie kontrolliert die für den Verkauf vorgesehenen Waren regelmäßig stichprobenartig.

    Die kommen unter anderem vom Großmarkt am Berliner Westhafen. Hier befindet sich der "Fruchthof Berlin", eine Halle wie ein Ikea-Warenlager. 30.000 Quadratmeter, 220.000 Tonnen Obst- und Gemüseumschlag pro Jahr. Als Sirplus-Einkäufer Felix Wagner in die Halle tritt, geht er schnurstracks zu einem Großhändler, der kistenweise aussortierte Ware abstellt: Salat, Staudensellerie, Grünkohl. Der Salat wirkt einwandfrei. "Da wundere ich mich tatsächlich gerade, warum der hier steht", sagt Wagner. Und bewahrt Salat, Staudensellerie und Grünkohl vorm Müllcontainer.

    Sieht aus wie ein konventioneller Supermarkt, die Waren aber sind „abgelaufen“: Sirplus-Filialleiter Anton Hartwig (rechts) nimmt in einem Berliner Laden Waren von Einkäufer Felix Wagner in Empfang.
    Sieht aus wie ein konventioneller Supermarkt, die Waren aber sind „abgelaufen“: Sirplus-Filialleiter Anton Hartwig (rechts) nimmt in einem Berliner Laden Waren von Einkäufer Felix Wagner in Empfang. Foto: Kathrin Harms

    Kiste um Kiste stapelt er auf eine Holzpalette. Wischt auf seinem Handy hoch und runter, um seine Ausbeute mit den Wunschlisten der Sirplus-Märkte abzugleichen. Packt drei Kisten Gurken oben drauf, je eine Kiste Dill und Suppengrün, zwei Kisten Romanesco. Wagner ist zufrieden, er ruft den Preismacher. Der tippt Kiste um Kiste in seinen Rechner. Plötzlich zeigt er auf eine Wand aus Pappkartons. Clementinen, in Beuteln. Zwei Lkw-Ladungen seien geliefert worden, nur eine davon habe sich verkauft, erzählt er. "Kannste palettenweise mitnehmen." "Sind die durch?", will Wagner wissen. Der Preismacher zögert. "Joaaah… Ein bisschen durch sind sie. Da ist halt in jedem Beutel mal eine drin, die kaputt ist." Wagner schaut sich zwei, drei Kisten an. "Hmm… Was sagst du? Wie viel der Beutel?" "Beutel zehn Cent. Scheißegal. Weg damit! Wir wollten die eigentlich gestern schon wegschmeißen." "Gut, zehn Kisten." "Na, siehste. Geht doch." Der Preismacher lächelt. Er verdient mit den Clementinen nicht nur etwas, er spart sich auch die Entsorgungsgebühren, die der Großmarkt für Nichtverkauftes in Rechnung stellt.

    Das Start-up will Geld verdienen. Ein Verteilungskampf auf Kosten von Bedürftigen?

    Als Felix Wagner später in der East Side Mall eintrifft, ist Filialleiter Anton Hartwig bester Laune: Gerade hat er einen stattlichen Kürbis verkauft. Wagner kann die Freude seines Kollegen nachvollziehen: "Für den klassischen Einzelhandel wäre ein solcher Kürbis zu groß. Wir geben ihm die Chance, hier trotzdem verkauft zu werden", sagt er. So sprechen Idealisten, Aktivisten, Lebensmittelretter. Geschäftsleute.

    Was Sirplus etablieren will, ist ein neuer Wirtschaftskreislauf. Denn Raphael Fellmer, einer der Gründer des Start-ups, geht es durchaus auch ums Geldverdienen. Aus Sicht der Berliner Tafel ist das problematisch – zumal sie Sirplus für einen kommerziellen Konkurrenten hält. Anders als das Start-up kauft die Tafel keine Waren, sondern gibt ausschließlich Spenden weiter. Was bereits dazu geführt habe, dass Großhändler oder Handelsketten lieber mit Sirplus kooperierten. Auf diese Weise können sie selbst noch an Waren verdienen, die im Müll landen würden. Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel, erzählt das. Es macht sie so fassungslos wie wütend: Lebensmittel, die bisher gespendet wurden, werden verkauft – sie habe darauf gewartet, dass das zum Geschäftsmodell werde. Jetzt ist es so weit.

    Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel.
    Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel. Foto: Jörg Carstensen, dpa

    "Es kann ja auch ein Geschäftsmodell sein", sagt Werth. "Aber dann sollte es auch als Geschäftsmodell bezeichnet werden. Es wird aber als Heilsbringer-Modell, als Weltrettung verkauft." Sie fürchtet, dass Fellmers Sirplus und andere kommerzielle Anbieter die Tafeln in Bedrängnis bringen, möglicherweise massiv. Die Berliner Tafel ist seit 1993 ein eingetragener Verein, in dem sich Ehrenamtliche für Bedürftige engagieren. Indem sie Lebensmittel verteilen, die kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums aus dem Verkauf genommen wurden.

    Konkurrenz durch Start-ups: Die Tafel-Gründerin hat schlechte Erfahrungen gemacht

    Die Berliner Tafel ist die erste von inzwischen knapp 1000 Tafeln in Deutschland. Sie finanziert sich durch Sach- und Geldspenden und betont auf ihrer Internetseite, dass sie "unabhängig von Wirtschaft und Politik" sei. "Lebensmittelrettung" praktizierte sie bereits, als dieser Begriff dafür noch gar nicht erfunden war. Zu den Tafeln kommen Menschen, die arm sind und lediglich einen symbolischen Preis für Lebensmittel zahlen können. Sie sind auf die Tafeln angewiesen, im Unterschied zu Sirplus-Kunden.

    Die Furcht, dass der Berliner Tafel durch das Start-up Konkurrenz entsteht, ist nicht unbegründet. Es sei schon vorgekommen, dass Tafel-Mitarbeiter Waren abholen wollten, jedoch nichts mehr bekamen: Sirplus sei vor ihnen da gewesen, erzählt Sabine Werth. Sirplus sei mittlerweile überall, "erst in zweiter Linie wird an uns gespendet". Ein anderes Unternehmen habe Verträge mit einer Supermarkt-Kette geschlossen, die Berliner Tafel gehe leer aus. Werth spricht von einem "Verteilungskampf auf Kosten der Bedürftigen". Fellmer und sie kennen sich. Er betont, die Tafel habe immer Vorrang, es gebe Unmengen an Lebensmitteln, die weggeschmissen würden. Zumindest in dem zweiten Punkt sind sie sich einig.

    Sabine Werth sucht nach einer Lösung, bemängelt fehlende Absprachen. Die könnte es mit dem schwedischen Unternehmen Matsmart geben, das auf den deutschen Markt will und ein ähnliches Geschäftsmodell wie Sirplus hat. Es kommt wie Fellmer und Werth in der Doku "Die Lebensmittel-Retter. Ins Regal statt in die Tonne" vor, die am Montagabend auf Arte lief. Am Dienstag erzählt Werth, sie habe als Reaktion auf den Film ein Gesprächsangebot erhalten: Matsmart könne sich vorstellen, Waren, die es nicht verkaufen könne oder möchte, der Tafel zu spenden.

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