Startseite
Icon Pfeil nach unten
Wirtschaft
Icon Pfeil nach unten

Corona-Regeln: Klagewelle: Der Einzelhandel verliert endgültig die Geduld

Corona-Regeln

Klagewelle: Der Einzelhandel verliert endgültig die Geduld

    • |
    Geschlossen! Händler und Gastronomen halten nicht mehr still, sondern wollen eine Öffnung erzwingen: „Die Regierung muss sich etwas einfallen lassen.“
    Geschlossen! Händler und Gastronomen halten nicht mehr still, sondern wollen eine Öffnung erzwingen: „Die Regierung muss sich etwas einfallen lassen.“ Foto: Jens Büttner, dpa

    Michael Busch ist sauer. "Wenn die Bundeskanzlerin sagt, wir sind in der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, dann fordere ich sie auf: Frau Bundeskanzlerin, dann lassen Sie uns danach handeln!" Busch ist Chef der Buchhandelskette Thalia und hat zusammen mit anderen Händlern schon mehrfach die Corona-Politik von Bund und Ländern kritisiert. Doch diesmal ist es richtig Ernst.

    Wenige Tage vor dem nächsten Corona-Gipfel mit Kanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsidenten der Länder ist die Wut der Einzelhändler offenbar grenzenlos. Sollte es am kommenden Mittwoch keine Öffnungsperspektive geben, droht eine Klagewelle. Zwar hat Merkel gerade durchblicken lassen, dass sie sich im Verbund mit der Ausweitung von Schnelltests Lockerungen durchaus vorstellen kann. Doch die Händler interessieren Absichtsbekundungen gerade gar nicht. Sie wollen Fakten.

    Ernsting's family-Chef: Die Politik ist das Problem

    "Bei uns zählt jeder Tag", warnt Timm Homann. Der Chef der Textilkette Ernsting’s family ist mindestens so geladen wie der neben ihm sitzende Busch. Beide begleiten den Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth, der neue Alarmzahlen im Gepäck hat. Homann sagt, nicht die Pandemie sei das Problem, sondern die Art, wie die Politik mit den Händlern umgehe. Von einem "beschämenden Krisenmanagement" spricht er und von "willkürlich zwangsgeschlossenen Handelsunternehmen". Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) wirft er vor, sich lediglich die Bälle zuzuspielen und von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) erwartet er immer noch eine Entschuldigung. Warum? "Es gibt keinen Grund, sich wirklich noch am 28. Dezember einen Pullover zu kaufen", hatte der SPD-Politiker Müller die Schließungen im Einzelhandel verteidigt. Solche Sätze treffen die Kaufmannsehre nach wie vor nachhaltig. Denn die Lager sind voll, eigentlich müsste schon die neue Kollektion bestellt werden, doch Platz gibt es nicht und Einnahmen auch nicht. Die Rechnungen allerdings laufen weiter.

    Die vom Staat angekündigten Hilfen kommen beim Einzelhandel nur unzureichend an. Im Schnitt erhielten die Betroffenen im vergangenen Jahr lediglich 11.000 Euro an Hilfsgeldern, wie eine Untersuchung des HDE ergeben hat. Die Folgen sind dramatisch: Mehr als 60 Prozent der Händler sehen sich laut HDE in Insolvenzgefahr, sollten sie in diesem Jahr keine weitere staatliche Unterstützung erhalten. Die Folgen für die Staatskasse, unter anderem durch mehr Arbeitslose, wären deutlich spürbar.

    Den Steuerzahlern droht zudem Ungemach durch Klagen infolge der Lockdowns. Genth verweist darauf, dass allein in der Bekleidungsbranche laut HDE-Umfrage mehr als ein Viertel der Händlerinnen und Händler wegen der Schließung des eigenen Geschäfts den Gang vor Gericht erwägt. Es sind nicht nur die Großen der Branche, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen, die die damit verbundenen Kosten und das Prozessrisiko auf sich nehmen. Auch Klagen gegen Grundrechtseingriffe werden erwartet oder laufen bereits. Da geht es dann zum Beispiel um Eingriffe in das Recht auf freie Berufsausübung oder den Artikel 14 Grundgesetz, der sich mit Enteignungen und Entschädigungen befasst.

    Die Händler wollen bei Verlängerung der Ladenschließungen klagen

    Noch diese Woche will der HDE allen Händlern ein Rechtsgutachten zur Verfügung stellen, mit dem sie gegebenenfalls Hilfen einklagen können. Genth sagt, viele Händler würden das Bund-Länder-Treffen am 3. März abwarten und dann entscheiden, ob sie Klage einreichen. Die Erwartung des Einzelhandels an die Runde ist eindeutig. "Wir fordern und brauchen die Öffnung des Handels ab 8. März", sagt Busch. Er verweist auf bestehende Hygienekonzepte, Studien und Aussagen des RKI. Demnach ist das Infektionsrisiko im Handel sehr niedrig. Die Öffnung des Einzelhandels, betont Busch, stelle "kein erhöhtes Risiko dar".

    Auch in Bayern ist die Erwartungshaltung an die Bundesregierung klar und die Geduld so ziemlich am Ende. Claus-Dietrich Lahrs, Geschäftsführer des Modehändlers s.Oliver mit Sitz in Würzburg, sagt: "Eine solche Situation haben wir in unserer 50-jährigen Firmengeschichte noch nicht erlebt. Wir als Modeeinzelhändler wurden willkürlich geschlossen, obwohl wir Hygienekonzepte bereits erfolgreich angewendet haben. Gleichzeitig ist der Lebensmitteleinzelhandel mit viel höheren Frequenzen geöffnet, floriert und verkauft neben Lebensmitteln auch unsere Sortimente." Die s.Oliver Group prüfe nun eine Verfassungsbeschwerde. "Wir sehen eine massive Ungleichbehandlung und unser Eigentumsrecht wird massiv beschnitten."

    Auch der Handelsverband Bayern (HBE) begleitet bereits Klagen von Händlern. Wie Wolfgang Puff, HBE-Hauptgeschäftsführer, im Gespräch mit unserer Redaktion sagte, hätten fünf bayerische Händler ein Normenkontrollverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof wegen der bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung angestrengt. Diese fünf Unternehmen repräsentieren laut Puff verschiedene Branchen und Größen. Insgesamt seien sogar rund 200 Unternehmen bereit gewesen, sich nun juristisch zur Wehr zu setzen. Die fünf Anträge seien bereits vergangene Woche eingereicht worden. Da es sich um ein sogenanntes Eilverfahren handele, könnte bereits diese Woche eine Entscheidung fallen. Puff sagt: "Wir sind der Auffassung, dass die Infektionsschutzmaßnahmen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und gegen das Recht auf Berufsfreiheit verstoßen sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen." Puff hofft auf rasche Klärung, denn: "Sollte sich herausstellen, dass die Verordnung nicht rechtens ist, dann wird der Handlungsdruck für die Politik groß."

    Augsburger Händler unterstützen die Forderung nach einer Öffnungsperspektive

    Auch in unserer Region überlegen Händler, den Klageweg zu beschreiten. In Augsburg prüft zum Beispiel Marcus Vorwohlt, Geschäftsführer des Modehauses Rübsamen, rechtliche Schritte. "Wir müssen den Druck auf die Politik massiv erhöhen. Das ist leider die einzige Lösung", sagt Vorwohlt. Rübsamen ist mit insgesamt 11 Filialen und fast 200 Mitarbeitern einer der großen regionalen Modeanbieter in Bayern.

    Vorwohlt hält es für wichtig, dass der Handel schnell eine Öffnungsperspektive bekommt. "Wir hatten ursprünglich mit einer Öffnung Mitte Februar, spätestens Anfang März gerechnet", sagt er. "Jetzt gilt ein Inzidenzwert von 35 als Kriterium. Durch die Corona-Mutationen werden wir diesen Wert aber auf lange Zeit nicht sehen", befürchtet er. "Das würde für den Handel bedeuten, praktisch nie mehr wieder aufzumachen", kommentiert Vorwohlt. "Die Regierung muss sich etwas anderes einfallen lassen", fordert er. "Wir haben bisher keine Öffnungsperspektive, nicht einmal eine Planungsperspektive."

    Die Frage ist natürlich, welche Chancen Händler vor den Gerichten haben. Rechtsprofessor Josef Franz Lindner, der an der Augsburger Universität einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht hat, sagt, dass die Klagen gegen den Lockdown durchaus erfolgversprechend seien. "In Gebieten mit einer dauerhaften Inzidenz von unter 35 lässt sich die weitere Schließung des Einzelhandels rechtlich keinesfalls halten." Aber auch bei Überschreitung dieses Wertes sei die weitere pauschale Schließung des Einzelhandels rechtswidrig. "Denn unabhängig vom Inzidenzwert ist bei jeder Maßnahme gegen Corona der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten." Maßnahmen, die nur eine geringe Schutzwirkung entfalten, aber mit intensiven Grundrechtseinschränkungen verbunden seien, seien unverhältnismäßig, warnt er. Die Schließung des Einzelhandels "beschränkt die Freiheiten von Händlern und Kunden maximal, bringt aber nur wenig".

    Rechtsprofessor sieht gute Chancen für eine Verfassungsbeschwerde

    Erst kürzlich habe das Robert Koch-Institut das Infektionsrisiko im Einzelhandel bei Beachtung von wirksamen Hygienestandards ausdrücklich als niedrig eingestuft. Lindner wörtlich: "Eine weitere generelle Schließung des Einzelhandels ist daher unverhältnismäßig. Der Staat verletzt die Grundrechte der Händler und Kunden in erheblicher Weise. Auch eine Verfassungsbeschwerde schätze ich daher als erfolgversprechend ein." Sollte die Politik an der rechtswidrigen Schließung festhalten, so Lindner, drohen Schadenersatzklagen.

    In einem ersten Verfahren hat der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof in der vergangenen Woche allerdings einen Eilantrag des Handelshauses Breuninger auf sofortige Öffnung abgelehnt. Begründung der Richter: Die Voraussetzungen des Infektionsschutzgesetzes für Betriebsschließungen seien "voraussichtlich erfüllt". Einschränkungen seien für Breuninger selbst dann zumutbar, wenn das Unternehmen keine staatlichen Hilfszahlungen erhalten sollte. Außerdem sei der Betrieb des Unternehmens "keineswegs vollständig untersagt". Abholangebote, Lieferdienste und der Online-Handel seien möglich, diesen betreibe Breuninger "in erheblichem Umfang". Breuninger will weiter kämpfen und hat in sechs Bundesländern ähnliche Klagen eingereicht.

    Politiker sprechen sich gegen schnelle Lockerungen für den Einzelhandel aus

    Unstrittig bleibt jedenfalls, dass die Innenstädte Hilfe brauchen. "Die Innenstädte werden sich massiv verändern – und umso länger der Lockdown noch dauert, umso weniger ist dieser Prozess noch steuerbar", sagt in Augsburg Rübsamen-Chef Vorwohlt. "Es wird wahrscheinlich Jahre dauern, dies alles wieder zu reparieren." Der Präsident des Deutschen Städtetages und Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung sprach sich zwar am Donnerstag für einen vorsichtigen Kurs bei den Lockerungen aus, weil er für umfassende Öffnungen keinen Spielraum sehe. Er forderte aber zugleich massive Unterstützung vom Bund. Der solle schnell ein "Förderprogramm Innenstadt aufsetzen. Wir stellen uns dabei 500 Millionen Euro jährlich für fünf Jahre vor, um nachhaltig etwas zu erreichen."

    Der sächsische Rathaus-Chef zeigte "großes Verständnis" für das Drängen des Einzelhandel. Er betonte aber auf Anfrage: "Die Situation ist sehr fragil. Deshalb bitte: gemach." Mit ersten Öffnungsschritten an Kitas und Schulen könnten nun Kinder und Jugendliche wieder einen normaleren Alltag leben. Jung sagte perspektivisch: "Wenn sich dieser Schritt bewährt, werden wir auch über Lockerungen für den Einzelhandel sprechen können. Dazu gehört auch eine kluge Teststrategie."

    Das könnte Sie auch interessieren:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden