Die Klage ist alt: Weihnachten sei nur noch eine Konsumorgie. Der Sinngehalt des Festes gehe völlig unter. Diese Gefahr gibt es heuer in der Form wohl nicht. Es gab zwar auch Gewinner der Krise, aber das Jahr 2020 war für weite Teile des Einzelhandels im wahrsten Sinne des Wortes ein Seuchenjahr. Heftig getroffen hat es etwa Bekleidungsgeschäfte. Jeder einzelne Monat brachte ihnen ein Umsatzminus im Vergleich zum Vorjahr. Bis Ende Oktober summierten sich die Einbußen auf 24,5 Prozent, erklärte Steffen Jost, der Präsident des Handelsverbandes Textil, am Donnerstag in einem Gespräch mit Journalisten. Aber das dicke Ende könnte erst noch kommen.
Das Weihnachtsgeschäft ist für den Handel überlebenswichtig. In den letzten beiden Monaten des Jahres erzielt die Branche, je nach Sparte, bis zu einem Viertel des Jahresumsatzes. Doch weil infolge der erneuten Corona-Einschränkungen die Kundenfrequenz in den Innenstädten drastisch nachgelassen hat, drohen den Händlern dort nun existenzgefährdende Einbußen, sagte Stefan Genth, der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE) bei derselben Veranstaltung. Nun geht die Angst vor einer Pleitewelle um.
Marcus Vorwohlt, Geschäftsführer des mittelständisches Textilhauses Rübsamen mit sechs Filialen in Schwaben und Oberbayern, sagte unserer Redaktion, die Verschärfung der Corona-Maßnahmen habe sich unmittelbar auf die Kundenfrequenz ausgewirkt: „Wegen der besonders hohen Infektionszahlen sind die Maßnahmen in Augsburg bereits am Freitagabend in Kraft getreten. Am Samstag hatten wir dort einen Rückgang um 40 Prozent, während in den Filialen in anderen Orten teilweise noch ein sehr guter Shopping-Tag war.“ Die Geschäftsleute haben nur wenige Hebel, um schnell auf diese Entwicklung zu reagieren.
Die Vermieter zeigen wenig Verhandlungsbereitschaft
Vorwohlt betonte, sein Haus halte an den regulären Öffnungszeiten fest, um die Kunden nicht zu verunsichern und um im Dezember sofort durchstarten zu können. Aber das Bild in der Branche ist nicht einheitlich. „Öffnungszeiten bedeuten Kosten und es könnte schon zu einer Art freiwilligem Lockdown kommen, wenn viele Unternehmer einfach versuchen zu retten, was zu retten ist“, sagte Textilverbandschef Jost. Ein Problem im Modehandel ist, dass die Beschaffungszeiten lang sind. 95 Prozent der Herbst- und Winterware ist längst geliefert. Volle Lager, wenig Kunden – das bringt die Preise unter Druck, die Margen schrumpfen. Wenn aber an einem Kleidungsstück wenig verdient wird, müssen mehr Stücke verkauft werden, um das Ergebnis zu halten. Damit schließt sich der Abwärtskreis. „Die Geschäfte dürfen geöffnet werden, aber die Kunden sollen zu Hause bleiben, das geht nicht zusammen“, so Genth.
Dazu kommen hohe Fixkosten: 50 Prozent davon entfallen auf das Personal, das auch bezahlt werden muss, wenn die Umsätze ausbleiben. Immerhin profitiert der Handel erstmals überhaupt vom Instrument der Kurzarbeit. Dafür droht bei den Ladenmieten eine Verschärfung. Viele Flächen in den Großstädten werden von institutionellen Anlegern wie Pensionsfonds gehalten. Da sei derzeit wenig Verhandlungsbereitschaft vorhanden, so Jost. Mittelständler Vorwohlt ergänzte, während des ersten Lockdowns im Frühjahr sei es gelungen, sehr gute und faire Lösungen mit den Vermietern zu finden. Nun müsse aber viel Erklärarbeit geleistet werden. „Die Vermieter sagen: Ihr habt doch geöffnet, ihr könnt doch Miete zahlen“, erläuterte der Geschäftsführer den Grundkonflikt. Weil so wenig Hoffnung auf eine gütliche Einigung besteht, drängt der Handelsverband mittlerweile auf eine Gesetzesänderung. Die Epidemie müsse als „Störung der Geschäftsgrundlage“ im BGB Berücksichtigung finden, so Genth.
Online-Umsätze muss man sich erarbeiten
November und Dezember werden so zu Monaten der Entscheidung für viele Ladeninhaber. „Wenn das Eigenkapital aufgezehrt ist, sind die Banken verpflichtet, Kredite fällig zu stellen“, sagte Jost. Ein Schutzschirmverfahren käme für die meisten kleinen Händler nicht infrage, da viele bereits mit ihrem Privatvermögen haften. Wie könnte es den Unternehmen da gelingen, die Krise zu überleben?
Mehr Geschäft im Internet zu machen, scheint naheliegend. Der Online-Handel erlebt einen Boom ungekannten Ausmaßes. Im Frühjahr schossen die Umsätze dort um 30 Prozent in die Höhe. Amazon, der größte Handelskonzern der Welt, hatte zuletzt einen Börsenwert von 1,6 Billionen Dollar. Seit Jahresbeginn ist der Aktienkurs um über 75 Prozent gestiegen. Allein im abgelaufenen Quartal machte der Konzern 6,3 Milliarden Dollar Gewinn – und teilte mit, man erwarte ein „beispielloses“ Weihnachtsgeschäft. Aber: „Online geht nicht schnell“, sagte Vorwohlt, „das braucht Strukturen, die man vorbereiten muss.“ Man müsse aber auf jeden Fall Kontakt halten zu den Kunden über soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram. Schnell zu realisieren seien Plattformlösungen bei größeren Händlern wie Amazon und Zalando – trotz grundsätzlicher Bedenken vieler Händler, dass die Großen so nur noch größer werden. „Das ist momentan alternativlos. Wir haben nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, eine Prinzipienabwägung können wir uns derzeit nicht leisten“, so Vorwohlt.
Staatliche Hilfen zum Ausgleich der Einbußen im November sind bislang nicht in Sicht. Immerhin eine gute Nachricht hatte der Handelsverband: Die Kaufbereitschaft ist stabil. Im Schnitt rund 245 Euro pro Kopf wollen die Deutschen für Weihnachtsgeschenke ausgeben.
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