Es stehe außer Frage, darauf beharrte der britische Premierminister Boris Johnson immer wieder, dass nach dem Brexit keine Kontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien für Güter notwendig würden. Auch der Nordirlandminister Brandon Lewis behauptete noch am Neujahrstag, es gebe keine irische Seegrenze. Die Realität sieht anders aus, nachdem der EU-Austritt Großbritanniens vollzogen ist.
Was der Brexit wirklich bedeutet, das wird für die Bürger mit jedem Tag greifbarer. So blieben in Nordirland wie auch in anderen Teilen des Landes in einigen Supermärkten Regale leer. Salat, Blumenkohl, Orangen, Erdbeeren, Himbeeren und Blaubeeren fehlten etwa in manchen Filialen der Supermarktkette Tesco.
Brexit und jetzt: Was sich nach dem 1. Februar ändert
Was ändert sich am 1. Februar im Alltag?
Nichts, sagt die EU-Kommission. Denn unmittelbar nach dem Austritt beginnt eine Übergangsphase bis 31. Dezember.
„Bis zu diesem Zeitpunkt ergeben sich für die Bürgerinnen und Bürger, Verbraucher, Unternehmen, Investoren, Studenten und Forscher in der EU und im Vereinigten Königreich keine Änderungen“, versichert die Brüsseler Behörde.
Man kann reisen wie bisher, ohne Roaming-Gebühren beim Handy. Man kann ohne Sorge Waren von britischen Webseiten bestellen. Oder wie bisher mit EU-Stipendien in Großbritannien studieren.
Was ändert sich für Großbritannien?
Übergangsphase heißt: Großbritannien ist zwar raus und offiziell Drittstaat, hält sich aber bis Jahresende an alle EU-Regeln und zahlt in den EU-Haushalt ein.
Alle EU-Programme laufen in Großbritannien weiter. Nur darf das Land in Brüssel nicht mehr mitreden.
Es hat keine Vertretung mehr in der EU-Kommission, bei Ministerräten, bei EU-Gipfeln oder im EU-Parlament. Dort verlieren am 1. Februar 73 britische Abgeordnete ihr Mandat.
27 freiwerdende Sitze gehen an Nachrücker aus 14 EU-Staaten, die bisher gemessen an der Bevölkerung zu schwach vertreten waren. 46 Sitze werden in einer Reserve geparkt.
Was ist schon vertraglich geregelt?
Im Austrittsvertrag ist die wichtigste Vereinbarung die für eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland.
So ist festgelegt, dass in Nordirland in jedem Fall für die nächsten Jahre einige Regeln des EU-Binnenmarkts und besondere Zollregeln gelten.
Im Übrigen klärt der Vertrag, wie viel Großbritannien noch für offene Rechnungen an die EU zahlen muss.
Es gibt diverse Übergangsregeln. Und abgemacht ist auch: Parmaschinken, bayerisches Bier und andere regionale Esswaren bleiben in Großbritannien geschützt – ebenso wie „walisisches Lamm“ und vieles mehr in der EU.
Dem Online-Lieferdienst Ocado gingen Brokkoli, Karotten und Blumenkohl aus. Neben Transportschwierigkeiten aufgrund der Corona-Pandemie scheinen zahlreiche Unternehmen von den seit 1. Januar gültigen Anforderungen und den notwendigen Formalitäten überrascht. Erst an Heiligabend einigten sich London und Brüssel in letzter Minute auf einen Handelsdeal. Und die massive Umstellung läuft alles andere als rund.
In Dover musste jeder fünfte Truck umdrehen
Exporteure in Großbritannien benötigen etwa zusätzliche Papiere, um ihre Lebensmittel nach Nordirland verfrachten zu können. Dieser Landesteil handelt laut Austrittsabkommen weiterhin innerhalb des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts, während der Rest des Königreichs nicht mehr Mitglied von Zollunion und Binnenmarkt ist. So kann etwa ein voll beladener Lastwagen am Hafen von Belfast aufgehalten werden, wenn auch nur für ein Produkt der Fuhre nicht die korrekte Zollerklärung ausgefüllt wurde. Dasselbe passierte am Hafen von Dover, wo etwa jeder fünfte Truck umkehren musste, wie der Transportverband RHA angab.
Der Frust unter Spediteuren und Händlern sitzt bereits tief, obwohl das erwartete Chaos an den Häfen bislang ausgeblieben ist. Wegen der Feiertagspause und den Vorbereitungen vieler Firmen – viele hatten im Vorfeld Vorräte angelegt – herrschte deutlich weniger Verkehr. Die Probleme würden sich verschlimmern, wenn diese Woche auf der wichtigsten Handelsroute im Südwesten Englands die Zahl wieder auf die üblichen 6000 Lastwagen pro Tag ansteige, hieß es vom RHA. „Das Chaos hat begonnen“, sagte der Frachtexperte John Shirley. „Sogar die einfachste Ladung nach Europa zu organisieren, hat sich aufgrund des Bergs an Bürokratie, die am 1. Januar eingeführt wurde, zu einer fast unmöglichen Aufgabe entwickelt.“
Auch die Fischer sind plötzlich frustriert
Auch der für die Brexit-Vorbereitungen zuständige Staatsminister Michael Gove warnte: „Die Situation wird schlechter, bevor sie besser wird.“ Die Worte des prominenten Europaskeptikers klingen deutlich anders als die rosigen Versprechen der letzten Jahre. Sogar unter den Fischern regt sich Widerstand. Sie waren mehrheitlich für den Austritt aus der Staatengemeinschaft, nun herrscht Ernüchterung.
„Es ist eine Katastrophe“, hieß es von einem schottischen Exporteur. Verzögerte Zollabfertigungen und IT-Probleme in Frankreich – plötzlich stecken frische Hummer und Krebse auf dem Weg auf den Kontinent fest. „Alles, was wir diese Woche verschifft haben, ist verloren“, sagte etwa der Chef des schottischen Meeresfrüchte-Exporteurs Loch Fyne Seafarms, Jamie McMillan, in einem Video, das er auf Twitter teilte.
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