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Arbeitsmarkt: Wenn Flüchtlingen trotz Arbeitsplatz plötzlich die Abschiebung droht

Arbeitsmarkt

Wenn Flüchtlingen trotz Arbeitsplatz plötzlich die Abschiebung droht

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    Es gibt viele wie Ramazani, die sich redlich mühen, gesuchte Fachkräfte, die aber dann in Deutschland doch kaum Perspektive haben.
    Es gibt viele wie Ramazani, die sich redlich mühen, gesuchte Fachkräfte, die aber dann in Deutschland doch kaum Perspektive haben. Foto: Julian Stratenschulte, dpa (Symbolbild)

    Ali Ramazani hat den Daumen verbunden. Eine kleine Verletzung, ein Arbeitsunfall mit einer Bohrmaschine. Nicht schön, aber eine Wunde, die bald heilen wird. Für Ramazani nicht groß der Rede wert. Er gehört zu den Menschen in diesem Land, die anderes hinter sich haben.

    Schlimmer ist, deshalb gerade nicht arbeiten zu können. Denn seine Stelle in der Sattlerei Böttcher bedeutet ihm so ziemlich alles. Schlimmer können auch Worte sein. Worte wie die Horst Seehofers zum Beispiel: „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ Ramazani, kennt diesen Satz des christlich-sozialen Bundesinnenministers, den der sagte, als er vor zwei Jahren seinen sogenannten „Masterplan Migration“ vorstellte. Ramazani sagt nicht viel dazu. Er ist Flüchtling, Afghane. Er denkt an die, die „zurückgeführt“ werden. „Denen hilft in Afghanistan keiner.“

    In Ingolstadt, der Heimat Seehofers, war längst auch Ramazanis Zuhause

    Auch ihm könnte dieses Schicksal drohen. Und das, obwohl er es schon geschafft hatte. Ramazani war ein Beweis dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem berühmt-berüchtigten Appell recht behalten, dass Integration nämlich gelingen kann: Seit 2012 ist er in Deutschland. Ingolstadt, die Heimat Seehofers, ist längst auch Ramazanis Zuhause. Der heute 24-Jährige begann, Deutsch zu lernen, fand seine Arbeit, Freunde, eine eigene Wohnung, zahlte Steuern. Er hatte sich etwas aufgebaut. Doch auch in Ramazanis Passdokument steht inzwischen über dem Bundesadler in Großbuchstaben: „AUSSETZUNG DER ABSCHIEBUNG (DULDUNG). Kein Aufenthaltstitel! Der Inhaber ist ausreisepflichtig!“ Ramazani sagt: „Wenn ich zurück nach Afghanistan komme, habe ich keine Chance.“ Er will für immer in Deutschland bleiben.

    Es gibt viele wie Ramazani, die sich redlich mühen, Fach- oder Hilfskräfte, die in Deutschland gesucht werden, und dann doch keine Perspektive haben. Sie sind nicht die Mehrheit, sondern eine Minderheit, aber ihre Schicksale frustrieren. Sie zeigen, dass es in Sachen Zuwanderung in einem alternden Land wie der BRD noch einiges zu tun gibt.

    Ramazani ist kein Einzelfall

    Dabei wurde durchaus viel geschafft. Nach einer im April veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit macht die Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem „weitere Fortschritte“. Von 2013 bis einschließlich 2018 kamen 1,2 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland. Rund die Hälfte dieser Geflüchteten geht fünf Jahre nach dem Zuzug einer Erwerbstätigkeit nach. Und das gelte auch für die, die ab 2015 kamen, erklärt IAB-Experte Herbert Brücker. Zumindest bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie, die Ausländer am Arbeitsmarkt besonders treffe. Ohne das Virus hätte sich der Trend verstetigt. Außerdem, erklärt Brücker, erfolge die Integration in den Arbeitsmarkt etwas schneller als bei den Flüchtlingen, die in den 90er Jahren kamen. Viele Asylverfahren seien weitgehend abgeschlossen. Und: Die große Mehrheit hat Integrationskurse oder andere Sprachprogramme besucht und abgeschlossen. Ein weiteres Ergebnis lautet: Vielen Flüchtlingen gelingt es, als Fachkraft zu arbeiten, obwohl sie, da wo sie geboren wurden oder herkommen, keine Abschlüsse gemacht haben.

    Wie Ramazani. „Ali war, als er kam, Analphabet“, erklärt sein Chef Thomas Böttcher. „In der Praxis ist er super, aber die Theorie fällt ihm daher sehr schwer.“ In Böttchers Sattlerei, einem kleinen, traditionellen Familienbetrieb am nördlichen Rand der Altstadt, werden Möbel aufgepolstert oder neu bezogen, Autoverdecke oder Innenausstattungen gefertigt. Wer eine Markise oder ein Sonnensegel braucht, bekommt sie hier genäht. Unter anderem von Ali. „Dessen beste Eigenschaft ist sein fröhliches Gemüt“, betont Böttcher. „Einer von uns würde das alles nicht lange mitmachen. Das ist schon hart. Wir sind das anders gewohnt.“

    Im Lastwagen vom Iran über die Türkei bis nach Deutschland

    Ramazani, so erzählt er, kommt aus der Provinz Wardak. Er gehört zu den Hazara, einem afghanischen Volk schiitisch-islamischen Glaubens. Die Taliban sind Sunniten. Er hat, so sagt Ramazani, „keine guten Erinnerungen an sein Geburtsland“. Seine Sätze werden kürzer und leiser an dieser Stelle des Gesprächs. Der Vater sei umgebracht worden, auch die Mutter inzwischen tot, die genauen Umstände unklar. Als er elf Jahre war, habe ihn die Mutter, als sie wieder heiratete, mit einem Nachbarn in den Iran geschickt. Dort lernte er nähen, was ihm in Deutschland später zugutekommen sollte. Er sei dann mehrfach zurück nach Afghanistan abgeschoben worden. Wieder zurück im Iran habe er sich von dort schließlich aufgemacht, über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Als unbegleiteter Minderjähriger in einem Lastwagen. Von Frankfurt kam er nach München. Von dort brachte man ihn in eine Asylunterkunft nach Geisenfeld, nicht weit von Ingolstadt. Eine Helferin vermittelte 2014 den Kontakt zur Firma Böttcher. In der damaligen Boomregion wurde jemand wie Ali gesucht.

    Er hatte Glück und Unglück. Die vier Jahre in der Sattlerei Böttcher lassen ihn ankommen, obwohl er mit seinem bisherigen Lebensweg schlechteste Ausgangsbedingungen hatte. Es sind gute Zeiten für ihn. Aber Deutschland verändert sich. Immer mehr Flüchtlinge erreichen die Bundesrepublik. Merkel sagt ihren berühmten Satz, der motivieren soll und das Land doch spaltet. Die CSU beginnt rhetorisch der AfD nachzueifern.

    Die Gerichte glauben ihm nicht

    Ramazanis Asylanträge werden zweimal abgelehnt. Behörden und Gerichte halten nicht alle Angaben der schwierigen Flucht- und Lebensgeschichte für glaubwürdig. Seine Anwältin, Traute Ehlerding, sagt dazu: „Es macht sich aus unserer Sicht aber auch niemand die Mühe zu erklären, warum das nicht glaubwürdig ist.“ Sie hat über 1000 Asylverfahren begleitet, darunter die vieler Afghanen. Sie glaubt Ramazani, was er sagt. Er müsse in Afghanistan um sein Leben fürchten.

    Unabhängig davon, wer nun recht hat, ob so ein Asylverfahren fair ist, in dem juristisch, unerfahrene Minderjährige Angaben machen, deren Tragweite sie selten überschauen können: Sollte jemand, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, sich anstrengt, beweist, dass er sich integrieren will und kann, nicht eine Chance bekommen? In einem Land, das in der größten Wirtschaftskrise seit Kriegsende nach Fachkräften sucht?

    „Alles ist besser als eine entwürdigende Abschiebung"

    Nachdem der zweite Asylantrag abgelehnt wurde, verliert Ramazani seine Arbeitserlaubnis. Kein Einkommen, keine Miete, keine Wohnung. Er muss zurück in die Unterkunft. Seinen kleinen, mühsam angesparten Hausstand muss er mit Verlust verkaufen. Nach vier Jahren ist er wieder da, wo er angefangen hatte. Er sagt: „Ich hatte ein schönes Leben. Und dann? Alles wieder auf null.“ Es beginnen Monate mit schlaflosen Nächten, denn er kann nun jeden Tag abgeschoben werden. Sein Chef sagt: „Das war wie ein Schlag vor den Kopf für uns.“

    Muss noch was zu schaffen sein, dachten sich die Böttchers, und organisieren eine Online-Petition. Ramazanis Fall kommt in den Petitionsausschuss des Bayerischen Landtages. Thomas Böttcher setzt sich weiter für seinen Schützling ein. Und seine Argumente werden gehört. Auch von der CSU, deren Landtagsabgeordnete Karl Straub und Alfred Grob, zuständig für Pfaffenhofen und Ingolstadt, sich für Ramazani einsetzen. Für ihn gilt nun die 3plus2-Regel: Drei Jahre Berufsausbildung, zwei Jahre arbeiten. Der Ausbildungsbetrieb: die Sattlerei.

    Man muss was tun. Warten sei stets die schlechteste aller Optionen, sagt Josefine Steiger, 65. „Alles ist besser als eine entwürdigende Abschiebung.“ Sie kennt Fälle wie den Ramazanis zur Genüge. Jahrzehnte war sie bei der IHK Schwaben in Augsburg beschäftigt, zuletzt als Leiterin des Bereichs Ausbildung. „Manchmal zerreißt es mir das Herz“, sagt sie. „Junge Leute, die Deutsch lernen, integriert sind, arbeiten wollen, sich nichts zuschulden kommen lassen – und doch keine Chance bekommen.“

    Das Grundrecht auf Asyl in Deutschland

    In Deutschland ist das Recht auf Asyl im Grundgesetz verankert. Festgelegt ist dies in Artikel 16a. Dort heißt es in Absatz eins: «Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.» Tatsächlich wird das Asylrecht in der Bundesrepublik damit - anders als in vielen anderen Staaten - nicht allein aufgrund der völkerrechtlichen Verpflichtung aus der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt, sondern hat Verfassungsrang.

    Mit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993 wurde dieses Grundrecht allerdings deutlich eingeschränkt. Unter dem Eindruck stark gestiegener Asylbewerberzahlen vor allem aus dem damaligen Jugoslawien setzten Union, FDP und SPD damals eine Grundgesetzänderung durch. Eine Folge: Wer über einen sicheren Drittstaat einreist, konnte sich seither nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen.

    In der Praxis bekommen Menschen, die heute vor Krieg und Krisen nach Deutschland fliehen, nur selten eine Asylberechtigung nach Artikel 16a des Grundgesetzes. Die meisten erhalten Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder einen eingeschränkten (subsidiären) Schutz. Das gilt für Menschen, die nicht als politisch verfolgt gelten, aber trotzdem bleiben dürfen, weil ihnen in der Heimat «ernsthafter Schaden» droht - wie Folter, Todesstrafe oder willkürliche Gewalt in einem bewaffneten Konflikt.

    Der Arbeitsmarkt bietet genügend Lehrstellen

    Seit Anfang des Jahres ist die Ausbildungsexpertin Rentnerin, vom Ruhestand aber weit entfernt. Steiger macht ehrenamtlich da weiter, wo sie im Job aufgehört hat. Längst allerdings begleitet sie die Flüchtlinge nicht mehr nur aufs Amt in Deutschland. Sie geht auch in andere Länder, damit ihre Schützlinge von dort als Arbeitsmigranten zurückkehren können. Ganz legal. Das Ziel: nach der freiwilligen Ausreise der jungen Flüchtlinge aus Deutschland ein Visum für die reguläre Wiedereinreise, der entscheidende Stempel, das Ticket für ein Leben in Deutschland. Einem Dutzend junger Leute, vor allem Afghanen, hat sie so bereits zu einer Ausbildung in Deutschland verholfen.

    Steiger kennt die Gesetze, die Mitarbeiter in den Ämtern, den Arbeitsmarkt in Schwaben, viele Unternehmer. Bei der IHK betreute sie das Projekt „Junge Flüchtlinge in Ausbildung“. Seit 2015 verhalfen Steiger und ihre Mitarbeiter 2000 Einwanderern zu Ausbildungsplätzen. Auf einem Arbeitsmarkt, der mehr Lehrstellen als Bewerber bietet, wie sie betont, und auf dem kein Immigrant einem Deutschen die Stelle wegnehme.

    Gleichzeitig traf sie immer wieder auch verzweifelte junge Flüchtlinge, die auch von einem Fachkräftezuwanderungsgesetz für qualifizierte Ausländer nicht profitieren, sagt sie. Und denen am Ende tatsächlich die Abschiebung droht, einschließlich der obligatorischen Wiedereinreisesperre.

    In Bayern sind die Gesetze besonderes restriktiv

    Steiger spricht von einem zeitaufwendigen, nervenaufreibenden und teuren Prozess, in dem sie beim Ringen um ein Visum gegenüber den Behörden und Unternehmen immer mit offenen Karten spiele. Denn beide gehen quasi in Vorleistung für einen Bewerber aus dem Ausland. Obwohl kein Betrieb vorher weiß, ob und wann der Mitarbeiter zur Verfügung steht, hat nach den Visa-Bestimmungen ein Ausbildungsvertrag vorzuliegen. Die zuständige Ausländerbehörde und die Arbeitsagentur müssen dem jungen Mann eine sogenannte Vorabzustimmung zum Visum ausstellen. „Das ist nicht selbstverständlich“, sagt Steiger. Sie betont allerdings auch, dass im CSU-dominierten Bayern die Gesetze besonders restriktiv ausgelegt würden. Zudem komme es darauf an, wo der Flüchtling im Freistaat lebt und welches Ausländeramt zuständig sei.

    An der Grenze zwischen Sudan und Lybien wurde eine Gruppe von Flüchtlingen bereits im Mai 2014 aus der Wüste gerettet.
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    Die Flüchtlingskrise von 2015 spaltete die Gesellschaft. Wir zeigen bewegende Bilder über eine Zeit, die in Erinnerung bleiben wird.

    Ali Ramazani wird schon bald wieder an seiner Nähmaschine sitzen

    Am Ende müssen neben den Flugtickets die Unterlagen, Formulare, Zeugnisse, Mietverträge für eine eigene Wohnung in Deutschland und personenbezogene Urkunden der deutschen Botschaft im Heimatland des Bewerbers vorliegen. So was kann dauern. Im afghanischen Kabul, wo die deutsche Botschaft nach einem Bombenanschlag vorerst keine Visa mehr ausstellt, müssten die Bewerber auf die Vertretungen der Bundesrepublik im indischen Neu-Delhi oder ins pakistanische Islamabad ausweichen. Flüchtlingstourismus, der von deutschen Behörden sogar unterstützt wird? „Ja, so ist es, ich habe das akzeptiert“, sagt Steiger. Wenngleich die Hürden sehr hoch seien. Denn die Formalitäten lassen sich eben nicht einfach von Deutschland aus erledigen, für die Visa-Erteilung ist allein die jeweilige deutsche Auslandsvertretung zuständig.

    In der ein wenig geschäftig-verwurschtelten Werkstatt der Ingolstädter Sattlerei wird Ali Ramazani bald wieder an Näh- und Schweißmaschine sitzen. Er muss sein Deutsch verbessern, das weiß er. Auch wenn wegen Corona Kurse ausfallen. Er hat noch vier Jahre bei den Böttchers vor sich. Danach wäre er zwölf Jahre hier. Bald kann er eine Aufenthaltserlaubnis wegen guter Integration beantragen. Dank seiner Stelle. Er will nie wieder bei null anfangen müssen. Sein nächstes Ziel: ein eigenes Zimmer.

    Dieser Text ist Teil unserer Themenwoche "5 Jahre Flüchtlingskrise - Wir schaffen das". Alle Artikel finden Sie hier.

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