Die Bundesagentur für Arbeit sitzt auf einem gigantischen Haufen Geld: 26 Milliarden Euro beträgt die Rücklage, die sich in den vergangenen Jahren bei der Behörde in Nürnberg angesammelt hat. Und selbst dieses dicke Finanzpolster wird womöglich nicht reichen, um die Folgen der Corona-Krise auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu bekämpfen. Was der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, am Donnerstag in Nürnberg verkünden musste, macht das Ausmaß der Krise für die Wirtschaft mehr als deutlich. Die Arbeitslosigkeit nehme zu, das Kurzarbeitergeld steige exponentiell auf "ungeahnte Höhen", die Stellenzugänge brächen ein - fasste Scheele die Negativzahlen gleich zu Beginn zusammen.
Fast jeder dritte Beschäftigte in Deutschland ist von Kurzarbeit betroffen
751.000 Unternehmen haben bis Ende April für 10,14 Millionen Menschen Kurzarbeit angemeldet. Weit mehr, als Volkswirte prognostiziert hatten. "Das ist eine Zahl, die uns auch ein bisschen hat den Atem stocken lassen", sagte Scheele. Aber hinter diesen 10,14 Millionen Namen steckten Menschen, deren Arbeitsplatz erhalten werde.
Damit könnte nicht nur jedes dritte dazu berechtigte Unternehmen von Kurzarbeit betroffen sein, sondern auch fast jeder dritte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Deutschland. In der Gastronomie - einer der am stärksten betroffenen Branchen, ist sogar für neun von zehn Beschäftigten Kurzarbeit angemeldet worden.
Die Bundesagentur geht davon aus, dass am Ende nicht alle Personen, für die ein Antrag gestellt wurde, tatsächlich Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen. Valide Schätzungen gibt es nicht, da die Situation nicht mit einer konjunkturellen Krise vergleichbar ist. Unklar sei auch, wie lange und zu welchem Prozentsatz die Kurzarbeit am Ende erfolge. Die Bundesregierung hat beschlossen, das Kurzarbeitergeld aufzustocken und nicht mehr nur 60 Prozent des Netto-Ausfalls zu ersetzen, sondern bis zu 80 Prozent, für Eltern bis zu 87 Prozent. Die Aufstockung koste zwischen 1 und 1,5 Milliarden Euro, so Scheele.
Die Arbeitslosenquote steigt, Massenentlassungen bleiben aber aus
Trotz der enorm hohen Kurzarbeitsanzeigen ist die Zahl der Arbeitslosen - untypisch für einen April - um 308.000 im Vergleich zum März auf 2,644 Millionen gestiegen. Damit liegt sie um 415.000 höher als im April 2019. Saisonbereinigt waren im April 373.000 Menschen mehr ohne Job - ein Anstieg wie nie zuvor um die Jahreszeit. Die Arbeitslosenquote kletterte um 0,7 Punkte auf 5,8 Prozent. Massenentlassungen aber finden nicht statt, die Unternehmen halten Mitarbeiter und überbrücken die Krise mit Kurzarbeit.
Im Krisenjahr 2009 waren in der Spitze 1,44 Millionen Menschen in Kurzarbeit - der bisherige Rekord. Im Gesamtjahr 2009 summierte sich die Zahl auf 3,3 Millionen. Die Bundesagentur geht in ihrem Negativszenario davon aus, dass es in der Spitze bis zu acht Millionen Kurzarbeiter werden und der Jahresdurchschnitt bei gigantischen 2,8 Millionen liegen wird. Zusätzlich könnte die Zahl der Arbeitslosen um 200.000 im Jahresdurchschnitt steigen.
In diesem Szenario würde die Rücklage von 26 Milliarden Euro nicht reichen. "Wir hätten einen Finanzbedarf zwischen vier und fünf Milliarden Euro aus den Mitteln des Bundes in diesem Jahr", sagte Scheele. Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände und Co-Vorsitzender im Verwaltungsrat der Bundesagentur, übte Kritik an der aus seiner Sicht allzu großzügigen Arbeitsmarktpolitik: "Durch politische Entscheidungen schmilzt allerdings die Rücklage der Bundesagentur für Arbeit schneller als Schnee in der Sahara."
Corona-Krise erschwert Besetzung offener Stellen
Scheele, in seiner bisherigen Amtszeit als BA-Chef eher an positive Meldungen gewöhnt, ist sichtlich mitgenommen, als er in Nürnberg die Aprilzahlen verkünden muss. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte habe er oder einer seiner Vorgänger im Amt mit solchen Zahlen vor die Presse treten müssen. Die Corona-Krise dürfte in Deutschland zur schwersten Rezession der Nachkriegszeit führen: "Schlimmer war es nie." Dadurch gerate auch der Arbeitsmarkt stark unter Druck. Nicht so sehr, weil es in großem Stil zu Entlassungen gekommen sei. Eher, weil es kaum noch offene Stellen gebe und weil arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie etwa Qualifizierungen gar nicht erst beginnen könnten.
"Das arbeitsmarktpolitische Geschehen ist praktisch zusammengebrochen", sagte Scheele. Im April 2020 waren nur noch 626.000 unbesetzte Stellen bei den Arbeitsagenturen gemeldet, 169.000 weniger als noch vor einem Jahr. Saisonbereinigt sei die Zahl der offenen Stellen um 66.000 nach unten gegangen. Vermittlungen fänden kaum mehr statt. Die Vermittler würden jetzt Anträge auf Kurzarbeit bearbeiten. Insgesamt sind mit dieser Tätigkeit derzeit nicht wie üblich 700 sondern 9000 Menschen betraut - neben den Bediensteten der Arbeitsagenturen auch Freiwillige des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der Deutschen Rentenversicherung und der Deutschen Post.
IG-Metallchef sieht Kurzarbeit als wichtiges Instrument in der Krise
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil würdigte - ebenso wie IG-Metall-Chef Jörg Hofmann - das in Deutschland zur Verfügung stehende Instrument der Kurzarbeit - auch im Vergleich zu anderen Nationen. "Kurzarbeit sichert Millionen Arbeitsplätze", sagte Heil.
In den USA hatten sich in den vergangenen Wochen mehr als 30 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Allein in der Woche vor dem 25. April belief sich die Zahl der Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe auf 3,8 Millionen, wie das US-Arbeitsministerium mitteilte.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) versicherte, die Regierung werde auch weiterhin alles tun, um Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern: "Ich habe ganz bewusst die Bazooka herausgeholt. Unser Ziel ist es, dass Unternehmen und Arbeitsplätze einigermaßen heil durch diese Zeit kommen."
Inwieweit der mit gigantischen Summen geführte Kampf Insolvenzen und damit neue Arbeitslose verhindern kann, wird sich zeigen. "Das kommt darauf an, wie lange es dauert", sagte Scheele. Knackpunkt sei die Öffnung von Schulen und Kindergärten: "Die Wirtschaft kann nur anspringen, wenn Eltern zur Arbeit gehen können." Annelie Buntenbach, Vize-Vorsitzende des DGB, warnte: "Der Damm Kurzarbeit hält, und wir müssen alles dafür tun, dass er nicht bricht." (dpa)
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