Herr Geiwitz, wann schwappt die Insolvenzwelle auf uns zu?
Arndt Geiwitz: Eine Prognose ist hier schwierig, zumal es in der Corona-Phase nur vergleichbar wenige Insolvenzen gab. Das lag daran, dass der Staat großzügige Kurzarbeitsregelungen eingeführt hat und eine Zeit lang die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt hatte. Damit hat der Staat Insolvenzen verhindert.
Doch angesichts der enormen Rohstoff- und Energiepreis-Steigerungen ist die Sorge groß, dass die Zahl der Pleiten stark steigt.
Geiwitz: Das hängt stark davon ab, wie sich der Staat verhält. Noch ist mir nicht ganz klar, wozu die Bundesregierung alles bereit ist, also welche Hilfsprogramme sie für Firmen ergreifen wird. Die zentrale Frage lautet: Ist der Staat wieder allumfassend bereit, Beschäftigung zu sichern und Unternehmen durchzufüttern?
Dennoch müsste die Zahl der Insolvenzen angesichts des wirtschaftlichen Schocks zunehmen.
Geiwitz: Für einzelne Branchen wie den Automobilzulieferer-Bereich, den Einzelhandel und besonders energieintensive Unternehmen rechne ich auch mit einem Anstieg der Insolvenzen. Ich glaube aber nicht an eine große Insolvenzwelle.
Am Ende hängt es also vom Staat ab, wie hoch die Welle wird.
Geiwitz: Und der Staat setzt ja schon alles daran, dass es zu keiner Insolvenzwelle kommt. So wurde die Kurzarbeitsregelung verlängert. Und die Bundesregierung überlegt deutliche Entschärfungen bei der Insolvenzantragspflicht der Überschuldung. Dabei geht es darum, dass Firmen nicht mehr für zwölf Monate nachweisen müssen, dass sie ihren Zahlungen nachkommen können, sondern dies nur für einen kürzeren Zeitraum belegen müssen. Warum soll es dann jetzt plötzlich eine Insolvenzwelle geben?
Doch Sie haben einst mit einer solchen Pleite-Welle gerechnet.
Geiwitz: Im Frühjahr 2020 habe ich noch einen solchen deutlichen Anstieg vorhergesagt. Da war mir aber noch nicht klar, dass der Staat alles unternehmen wird, das zu vermeiden. Sogar die FDP wirkt nun zu allen staatlichen Hilfeleistungen entschlossen.
Das hat für Sie eine besondere Note. Schließlich lehnte die FDP im Fall der kollabierten Drogerie-Kette Schlecker 2012 eine staatliche Auffanggesellschaft für rund 25.000 vor der Kündigung stehende Beschäftigte aus ideologischen Gründen ab.
Geiwitz: Als Insolvenzverwalter von Schlecker musste ich erleben, dass die FDP eine solche Auffanggesellschaft verhindert hat – und das trotz 120-prozentiger Sicherheiten. Die Partei wollte damals ihren liberalen Grundsätzen möglichst geringer staatlicher Eingriffe in die soziale Marktwirtschaft treu bleiben.
Würde Anton Schlecker heute mit einer geläuterten FDP Pleite gehen?
Geiwitz: (lacht) Heute würde ein Anton Schlecker nicht mehr insolvent werden. Das würde die Bundesregierung verhindern und damit begründen, dass die Drogeriemarkt-Kette in Deutschland zehntausende Arbeitsplätze hat, also zu groß ist, um fallen gelassen zu werden. Und diese Entscheidung würde heute fallen, ob das Schlecker-Geschäftsmodell tragfähig ist oder nicht.
Dann hat Anton Schlecker Pech gehabt, zehn Jahre zu früh in Insolvenz zu gehen.
Geiwitz: Das ist richtig. Der Staat verhindert derzeit, dass Betriebe mit vielen Beschäftigten in die Insolvenz gehen, weil das nur politische Wellen schlagen würde. Deswegen wird es tendenziell eher kleinere Unternehmen erwischen. Der Toilettenpapier-Hersteller Hakle, der Insolvenz anmelden musste, ist ja mit rund 80 Millionen Umsatz kein großes Unternehmen.
Kommt das dicke Insolvenz-Ende in zwei, drei Jahren, wenn der Staat Firmen nicht mehr durchschleppt?
Geiwitz: Irgendwann müssen wir zur Normalität und den Gesetzen der Marktwirtschaft zurückkehren. Es ist eben auch gesund, dass Firmen, deren Geschäftskonzepte sich überlebt haben, aus dem Wirtschaftsleben ausscheiden. Die Beschäftigten gehen dann eben zu Firmen mit tragfähigeren Geschäftskonzepten. Ein solcher Wechsel gelingt in Zeiten des Fachkräftemangels viel leichter. Wenn heute ein Maschinenbauer insolvent geht, würden 80 bis 90 Prozent der Beschäftigten innerhalb eines Jahres einen neuen Arbeitgeber finden. Deswegen ist es nicht gut, in einer Volkswirtschaft marode Unternehmen auf Dauer staatlich zu stützen, nur weil man das blöde I-Wort nicht mag.
Also das Insolvenz-Wort.
Geiwitz: Eine Insolvenz darf nicht zu einer Stigmatisierung des betroffenen Unternehmers führen. Wir brauchen in Deutschland endlich eine Kultur, in der Scheitern zum Unternehmersein einfach dazugehört und gesellschaftlich nicht verurteilt wird. Solange ein Geschäftsführer seine Beschäftigten und Lieferanten nicht belügt, soll er die Chance für einen Neuanfang bekommen.
Sie haben Anton Schlecker bei Ihrem ersten Treffen im Zuge der Insolvenz Respekt bekundet.
Geiwitz: Ich habe seine Lebensleistung in diesem Gespräch gewürdigt. Schließlich hat er die größte Drogeriemarkt-Kette in Europa aufgebaut. Anton Schlecker hat kaum Urlaub gemacht und keine Flugzeuge oder Schiffe gekauft, sondern nur gearbeitet. Seine Beschäftigten haben keinen Monat auf ihr Gehalt gewartet. Anton Schlecker verdient es, dass man ihn fair behandelt.
Woran ist Anton Schlecker gescheitert?
Geiwitz: Natürlich hat er Fehler gemacht und war beratungsresistent. Das Geschäftsmodell war zumindest für das Inland nicht überlebensfähig. Es ist wie bei einem Notarzt: Manchmal kann man, so sehr man sich auch bemüht, als Insolvenzverwalter nichts mehr machen. Letztlich ist Schlecker nicht daran gescheitert, dass er schlecht war, sondern dm, Rossmann und Müller besser waren als er. Die drei Konkurrenten hatten 13 Prozent billigere Preise über alle Sortimente. Das konnte Schlecker mit seinen vergleichbar kleinen Geschäften nicht überleben. Wir haben alles versucht. Beinahe wäre es uns auch gelungen, aus Schlecker-Filialen Lebensmittel-Nahversorger zu machen. Doch es klappte dann doch nicht.
Der Zusammenbruch des deutschen Schlecker-Geschäfts hat Sie enorm aufgewühlt.
Geiwitz: Meine Mannschaft und ich haben Tag und Nacht für eine erfolgreiche Sanierung gearbeitet. Ich hätte gerne eine Erfolgsstory präsentiert. Das ist leider nicht gelungen. Dennoch haben die Arbeitnehmervertreter bei Schlecker unseren Einsatz gewürdigt. Immerhin konnten wir das ausländische Schlecker-Geschäft mit rund 10.000 der insgesamt etwa 40.000 Arbeitsplätze im Konzern retten. Das inländische Schlecker-Geschäft war nicht überlebensfähig. Ich bin froh, dass mich die Medien damals nicht zerrissen haben. Journalisten haben mich fair behandelt.
Das hört man gerne.
Geiwitz: Seit dem Fall „Schlecker“ habe ich meine Meinung über Journalisten komplett geändert. Ich verstecke mich nicht mehr und rede in Restrukturierungsfällen offen mit ihnen, selbst wenn es um Misserfolge geht. Dass ich nicht zerrissen wurde, hat mich damals in extrem schwierigen Zeiten gestärkt.
Das waren emotional harte Wochen für Sie.
Geiwitz: Es ging mir unter die Haut, dass ich rund 25.000 Kündigungen unterschreiben musste. Vertreter der Gewerkschaft Verdi haben mir vor Augen geführt, dass ich dort Menschen in einem sozial schwachen Umfeld kündige. Die Schlecker-Frauen haben oft das Geld für die ganze Familie verdient. Deswegen haben wir mit dem Betriebsrat versucht, diesen Menschen zu helfen.
Was wäre passiert, wenn Sie damals für Ihre Arbeit medial zerrissen worden wären?
Geiwitz: Dann hätte ich nicht gewusst, ob ich weiter Insolvenzverwalter geblieben wäre.
Doch es gab auch Erfolge. Den Augsburger Weltbild-Verlag gibt es noch. Hier sind Sie auch als Insolvenzverwalter aktiv gewesen.
Geiwitz: Weltbild ist zum Glück über den Berg. Es läuft operativ bei dem Unternehmen sehr gut. Das Insolvenzverfahren ist kurz vor dem Abschluss. Das ist eine runde Sache. Natürlich war es am Anfang schwer, zumal erheblich Personal abgebaut werden musste. Aber das Unternehmen konnte gerettet werden. Insofern bin ich zufrieden.
Sie hätten auch eine andere Karriere als die des Insolvenzverwalters einschlagen und das elterliche Schuhhandels-Unternehmen in Ulm übernehmen können.
Geiwitz: Nach dem Betriebswirtschaftsstudium bin ich auch in unseren Betrieb eingestiegen. Ich habe aber bald erkannt, dass die Firma auf Dauer zu klein und damit nicht wettbewerbsfähig ist. Ich habe meinem Vater erklärt, dass uns die Großen der Branche verdrängen, weil sie für 1-A-Lagen deutlich mehr Miete zahlen können.
Wie hat Ihr Vater reagiert?
Geiwitz: Zunächst war mein Vater enttäuscht, dass ich das Unternehmen nicht weiterführen wollte und es am Ende für ihn sogar verkauft habe. Doch später hat er sich bei mir für den Entschluss immer wieder bedankt. Er bekam schließlich noch gutes Geld. Später wäre das nicht mehr der Fall gewesen.
Arndt Geiwitz, 53, stieg 1995 in die Kanzlei des Wirtschaftsprüfers und Insolvenzverwalters Werner Schneider in Neu-Ulm ein. Seit 2004 ist er dort Partner und gilt als einer der renommiertesten Insolvenzverwalter Deutschlands.