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Wertingen: Das Wertinger Gitarrenfestival schickt die Menschen innerlich auf Reisen

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Das Wertinger Gitarrenfestival schickt die Menschen innerlich auf Reisen

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    Mit einem musikalischen Gespräch beenden Johannes Tonio Kreusch (links) und Luis Borda das Konzert beim diesjährigen Gitarrenfestival.
    Mit einem musikalischen Gespräch beenden Johannes Tonio Kreusch (links) und Luis Borda das Konzert beim diesjährigen Gitarrenfestival. Foto: Birgit Hassan

    Bereits am Nachmittag stehen sie da. Braune breite Holzstühle. In gebührendem Abstand. In der Turnhalle des Bliensbacher Schullandheimes. Warmes rotes Licht lässt die Banner am Rande der schlicht gehaltenen Bühne erstrahlen. Ein letzter Blick von Wertingens Kulturreferent Frieder Brändle. Der Konzertsaal wartet auf Besucher und Gitarrenklänge. Die wird es wenige Stunden später geben, in großer Fülle, sanften und herzzerreißenden Sequenzen. In einer Zeit, da Begrenzung und Abstand angesagt sind, durchbrechen sie alle Grenzen, nehmen Zuhörer und Musizierende mit auf die Reise und kommen zuweilen in der eigenen Tiefe an.

    Austausch im Bliensbacher Innenhof

    Noch dominiert beim neunten Wertinger Gitarrenfestival das Üben, Zuhören, sich Austauschen. Im hellen überdachten Innenhof des Schullandheimes kreuzen sich Gitarrenklänge aus den verschiedenen Richtungen. Gottfried Kriegler und Ula Polifke treffen sich seit vielen Jahren alljährlich auf dem Festival. Der 61-Jährige aus dem Horgauer Ortsteil Bieselbach genießt die „unheimlich familiäre“ Atmosphäre im Vergleich zu anderen Festivals. „Hier trifft sich alles – sehr, sehr gute Gitarristen und Leute, die für den Hausgebrauch spielen.“ Er selbst spielt seit seinem 13. Lebensjahr Gitarre. Jetzt kurz vor dem Rentenalter findet er endlich die Zeit, Stücke zu spielen, die er schon lange geplant hat. Auf eine Richtung festlegen kann und will er sich nicht, nennt sich selbst einen „musikalischen Zigeuner“. Was er spielt, hängt von seiner Laune ab. Im Moment reizt ihn die spanische Musik. Sie lässt ihn innerlich reisen nach Sevilla, Granada und Cádiz – andalusische Sehnsuchtsorte, die er derzeit mit Hilfe der Musik besucht. Im ländlichen Bieselbach sei er nicht wirklich eingesperrt. „Doch mir fehlen die sozialen Kontakte“, gibt er offen zu und genießt, dass er endlich wieder gemeinsam mit anderen – wenn auch unter Vorschriften – Musik machen kann. „Mit unseren Instrumenten können wir einfach ausbrechen.“

    Gitarrenmusik klang an allen drei Tagen durch das Schullandheim Bliensbach. Ula Polifke aus der Nähe von Bamberg und Gottfried Kriegler aus Bieselbach gehören zu den treuesten Teilnehmern des Wertinger Gitarrenfestivals.
    Gitarrenmusik klang an allen drei Tagen durch das Schullandheim Bliensbach. Ula Polifke aus der Nähe von Bamberg und Gottfried Kriegler aus Bieselbach gehören zu den treuesten Teilnehmern des Wertinger Gitarrenfestivals. Foto: Birgit Hassan

    Zu verdanken haben dies Seminarteilnehmer und Konzertbesucher zu einem großen Teil Bärbel Schoen. Gelassen sitzt die Impulsgeberin der ersten Stunde in einem der bunten, gesponserten Liegestühle und freut sich über die gewohnt heitere Stimmung unter den Gitarristen. „Ich habe mich nicht rausbringen lassen“, blickt sie zurück auf die vergangenen Monate, als ein Festival nach dem anderen abgesagt wurde. Flexibel hatten sich Förderverein, künstlerische Leiter, Bürgermeister und Kulturreferent immer wieder der neuen Lage angepasst und schließlich Anfang September für ein Festival in reduzierter Form entschieden.

    Dem Wertinger Festival fehlt nichts

    Der Atmosphäre scheinen die Einschränkungen nichts anzuhaben. „Mir fehlt nichts“, sagt Ula Polifke. Die 48-Jährige ist mit zwei ihrer drei Kindern aus der Nähe von Bamberg angereist. Die Konzentration auf das Schullandheim in dem Wertinger Ortsteil lässt sie eher entspannen. „Ich habe heuer mehr musiziert als je zuvor.“ Gemeinsam mit ihrer Familie hatte sie bereits in der Corona-Anfangszeit bei offenem Wohnzimmerfenster musiziert und so manchen Spaziergänger erfreut, der an dem fränkischen Hof vorbei lief. „Musik verbindet, macht gesund und hält gesund“, das erlebte Ula Polifke selbst oftmals.

    Genau aus diesem Grund hat Wertingens Kulturreferent Frieder Brändle sich dafür stark gemacht, dass „das was möglich ist, auch stattfinden soll“. Menschen seien sehr empfänglich für Schwingungen, damit auch für wohltuende musikalische Schwingungen. „Die brauchen wir gerade im Moment, da wir in einer Kultur der Angst und Einschüchterung leben, mit der jeder Einzelne klar kommen muss.“

    Wertinger künstlerischer Leiter spielt selbst

    Johannes Tonio Kreusch, künstlerischer Leiter des Festivals, nimmt an diesem Abend selbst als erster auf der Bühne Platz. Mit den ersten Klängen offenbaren sich besagte „musikalische Schwingungen“. Augen schließen und träumen, wach den Fingern des Musizierenden folgen, fasziniert das Abschneiden des Klangvolumens durch Bleistift und Büroklammer zu beobachten – Kreusch nimmt seine Zuhörer mit auf die Reise zu „Siddhartha“. Ein Suchender, den Herrmann Hesse mit Worten, Kreusch mit Tönen und Klängen begleitet. „Suchen heißt ein Ziel haben. Finden aber heißt: Frei sein, offen stehen, kein Ziel haben“, zitiert der Gitarrist zwischendurch aus dem Buch. Kreusch hatte sich mit der „Siddhartha-Suite“ selbst vor einiger Zeit auf den Weg zur freien Improvisation und sich selbst gemacht. An diesem Abend berühren seine Klänge das Innerste derer, die sich darauf einlassen.

    Von hier aus geht die Reise zunächst wieder nach außen zur Bühne und Luis Borda. Mit romantischen Tangos führt der gebürtige Argentinier zunächst in seine ehemalige Heimat und – natürlich – zur Liebe. „Zu spät“ und „Schwarze Blumen“, lassen die mitschwingende Melancholie bereits erahnen. Ein Blick auf die Uhr – „schon so spät“ – lässt die Zuhörer kurz innehalten, bevor sie sich nochmals dem Tango und den jetzt fetzigen und markanten Klängen des Wahlmünchner Tango-Gitarristen hingeben können. Einer seiner roten Schuhe gibt passend zu den extravaganten feurigen Phrasen den Takt an. Die romantische Liebe scheint sich zur leidenschaftlichen gewandelt zu haben. Applaus! Und als Zugabe ein musikalisches Gespräch – live, von Gitarre zu Gitarre, Künstler zu Künstler, und von der Bühne zu jedem Einzelnen im Publikum.

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