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Buttenwiesen: „Sicherheit gelingt nur auf Kosten der Freiheit und Lebensfreude“

Buttenwiesen

„Sicherheit gelingt nur auf Kosten der Freiheit und Lebensfreude“

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    Angst ist eines der stärksten Gefühle im Menschen.
    Angst ist eines der stärksten Gefühle im Menschen. Foto: Michael Hochgemuth

    Angst – wer kennt sie nicht? Die Psychotherapeutin Elvira Braun (64) kennt sie in vielen Varianten bei ihren Patienten, von der Angst vor Krankheit bis zur Angst vor allem. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt sie, wie jede(r) Einzelne Angst in Alltagssituationen ausmachen und damit umgehen kann. Denn Angst an sich hat durchaus ihre Berechtigung.

    Kennen Sie Angst?

    Elvira Braun: Nein, nicht wirklich. Was ich bei mir derzeit allerdings erstmals entdecke, ist eine Art Orientierungslosigkeit.

    Inwiefern?

    Braun: Nächstes Jahr werde ich meinen Kassensitz in Buttenwiesen aufgeben und in Rente gehen. Bis vor kurzem dachte ich noch, dann kaufe ich mir einen Wohnwagen und fahre durch Europa. Und wenn ich keine Lust mehr habe, fahre ich wieder heim. Oder ich nehme mein Fahrrad und radle los, übernachte auf Campingplätzen oder Gasthäusern.

    Daran zweifeln Sie jetzt?

    Braun: Im Moment ist das alles nicht möglich. Plötzlich taucht jetzt das Gefühl in mir auf, dass ich nicht weiß, wie es weitergehen wird mit meinem Leben. Das kenne ich so gar nicht. Ich hatte immer einen Plan.

    Keinen Plan zu haben, macht Sie unsicher?

    Braun: Auf der einen Seite unsicher, auf der anderen Seite kritisch. Ich hinterfrage mittlerweile einiges. Es ist ja nicht so, dass ich in meinem Alter noch unendlich viel Zeit habe in meinem Leben.

    Elvira Braun
    Elvira Braun

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen Unsicherheit und Angst?

    Braun: Angst ist ein Gefühl, Unsicherheit die kleine Schwester.

    Kann man sagen, dass alle Menschen in irgendeiner Form Angst haben beziehungsweise sich unsicher fühlen?

    Braun: Wir denken ständig über die Zukunft nach. Und darüber, was wir machen sollen. Der Mensch versucht, seinen Geist dafür einzusetzen, sich in Sicherheit zu bringen, die Probleme und sein Leben zu kontrollieren. So sind wir gestrickt. Aber natürlich gelingt uns das nur auf Kosten der Freiheit und der Lebensfreude.

    Die Wahl zwischen Sicherheit und Freiheit ist sozusagen ein Grunddilemma des Menschen.

    Braun: Ja, ganz klar. Natürlich kann ich mich den ganzen Tag hinsetzen, nicht Auto fahren und nicht in den Wald gehen, weil dort vielleicht ein Räuber ist. Damit gehe ich meinem Bedürfnis nach, das Leben sicher und kontrollierbar zu machen. Andererseits existiert in allen von uns das Bedürfnis, was zu erleben, ein Risiko einzugehen. Das bekomme ich halt nur, wenn ich mich aus meinem Schneckenhaus herauswage.

    Ist Angst angeboren oder erworben?

    Braun: Das ist immer wieder eine Frage in der Psychologie. Man weiß, dass Gefühle sich vererben. Neben der genetischen Determinante beeinflusst die Umwelt stark den Menschen, wie und mit wem er aufwächst. Ich habe eine Patientin mit einer generalisierten Angststörung, deren Mutter ihr von Kindesbeinen an eingeimpft hat, dass alles gefährlich ist – Kontakt, Männer, Wald, alles. Hier war sicherlich die Mutter bereits angstkrank.

    Existiert neben Genetik und Prägung auch eine kollektive Angst?

    Braun: Durchaus. So gibt es verschiedene Erklärungsansätze für die sogenannte „German Angst“. Demnach verfügt die deutsche Bevölkerung über das höchste Angstniveau. Interessant ist, dass Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt gehört. Es scheint, dass die Angst umso größer ist, je mehr man besitzt. Dazu kommt die Kriegstraumatisierung in Deutschland.

    Sie sind selbst ein Kind der Nachkriegszeit. Können Sie diese Angst bei sich selbst ebenfalls wahrnehmen?

    Braun: Ich durfte sehr frei aufwachsen. Gleichzeitig wundere ich mich manchmal, wie tief mich Filme über die Nazizeit teilweise berühren, wenn NS-Verbrechen und die Schicksale Inhaftierter gezeigt werden – so viel Menschenverachtendes. Die Traumatherapie zeigt, wie die Erlebnisse der Kriegsgeneration bis heute in der Psyche der Kinder und Enkelkinder nachwirkt.

    Wie gehen Sie damit um?

    Braun: Als Psychologen lernen wir, sehr gut zu reflektieren und zu bemerken, wann ist ein Gefühl angemessen und wann reagiere ich irrational.

    Woran merke ich, dass ich irrational reagiere? Auch ganz konkret beim Thema Corona?

    Braun: Indem ich im Moment beispielsweise alle Menschen als potenziell gefährlich einstufe. Diese Vorstellung hält die allgemeine Hysterie aufrecht. Angst macht auch irrational.

    Kann ein Mensch, der sich in großer Angst befindet, noch rational denken?

    Braun: Nein. Nein! – Deswegen gibt es ja auch die sogenannte Schockreaktion. Das ist von der Natur so gemacht. Wenn du beispielsweise einen Autounfall hast und verletzt bist, dann stehst du unter Schock und machst erst mal alles „richtig“, so, wie du es gelernt hast: Du nimmst dein Warndreieck aus dem Auto und stellst es auf und rufst den Arzt an. Unter Angst funktioniert das Gehirn nicht, Automatismen springen an.

    Diese automatischen Reaktionen können damit auch lebensrettend sein.

    Braun: Im ersten Moment hilft es, wenn ein Programm abläuft. Irgendwann gilt es, durchzuatmen. Schon der Volksmund sagt: „Jetzt schlaf erst mal drüber.“ Was so viel heißt, wie: Beruhige dich, komm runter, dann funktionieren auch deine Gehirnrädchen wieder gut.

    Und wir können wieder denken?

    Braun: Mit Blick auf die aktuelle Situation vor allem relativieren.

    Die derzeitigen Ängste der Menschen lassen sich in drei Kategorien unterscheiden: Angst vor dem Virus, Angst vor einer Diktatur, der Spaltung unserer Gesellschaft und Angst vor wirtschaftlichem Ruin. Haben diese Ängste etwas gemeinsam?

    Braun: Bei allen handelt es sich eher um eine intellektuelle Angst, die im Kopf entsteht. Dabei ist Angst ursprünglich etwas Körperliches. Sprich: Der Körper reagiert spontan auf eine gefährliche Situation. Eine Angsterkrankung im psychologischen Sinn zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen Ängste haben, von denen sie selbst wissen, dass sie irrational sind. Wenn jemand ein Hypochonder ist, weiß der auf der Ebene des Kopfes, dass er nicht krank ist, wenn fünf Ärzte ihm das schon gesagt haben. Doch das Gefühl – die Angst – ist trotzdem da. Das heißt, sie können sich nicht selbst überzeugen.

    Sind die Menschen damit im Moment angstkrank?

    Braun: Wenn man die aktuellen Sterblichkeitsraten ansieht, – wir sprechen von einer Untersterblichkeit – kann man davon ausgehen, dass man den Ängsten mit Logik und Rationalität nicht beikommen kann.

    Wobei der Tod an sich eine realistische Angst ist.

    Braun: Der Tod gehört zum Leben. Es gibt eine Urangst in uns, sobald wir auf die Welt kommen. Je mehr diese – wie bei uns – kollektiv abgewehrt wird, desto mehr wirkt sie im Unterbewusstsein.

    Und hindert uns an der Lebendigkeit?

    Braun: Sicherheit und Freiheit. Da sind wir wieder beim Ausgangsthema.

    Ängstigen wir uns vielleicht auch manchmal vor der Wahrheit?

    Braun: Viele Menschen haben Angst vor der Wahrheit, sonst würden sie in ihrem Leben oft ganz neue und andere Wege gehen. Doch dazu gehört Mut und wirklich erwachsen zu werden. Für sich hinzustehen und Verantwortung zu übernehmen – mit allen Konsequenzen. Das können nur wenige.

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