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Buttenwiesen: Harald Jähner nimmt seine Leser mit in die „Wolfszeit“

Buttenwiesen

Harald Jähner nimmt seine Leser mit in die „Wolfszeit“

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    Harald Jähner (Mitte) mit den Organisatoren des literarischen Abends Manfred Hartl (rechts) und Helmut Sauter.
    Harald Jähner (Mitte) mit den Organisatoren des literarischen Abends Manfred Hartl (rechts) und Helmut Sauter. Foto: Sauter

    Der coronagemäß bestuhlte Zehentstadel in Pfaffenhofen ist bis auf den letzten Platz besetzt. Über den musikalischen Gruß mit Tangovariationen, gespielt von Chiara Bunk auf dem Sopransaxofon und begleitet von Kirill Kvetny auf dem Flügel, freut sich Harald Jähner, der Gastautor des Abends, besonders. Im Rahmen des Literaturfestivals Nordschwaben stellt der Preisträger der Leipziger Buchmesse seinen Bestseller „Wolfszeit“ vor, eine beeindruckende Dokumentation der Nachkriegszeit in Deutschland mit vielen akribisch recherchierten Einzelschicksalen und authentischen Alltagsbegebenheiten, die uns heute skurril oder gar aberwitzig erscheinen mögen.

    Die Geschichten sind hart, aber auch skurril

    Angesichts des Kriegsgeschehens in der Ukraine wählt Harald Jähner zu Beginn seiner Lesung das Kapitel „Stunde Null“, das Ende des Kriegsinfernos in Deutschland. Im Jahr 1945 bedeutet die „Stunde Null“ zwar das Ende des Schreckensszenarios Krieg, jedoch noch lange nicht das Ende des Hungers, der Orientierungslosigkeit, des Überlebenskampfes – mit einem Wort der „Wolfszeit“, in der die übrig gebliebenen zunächst „für sich selbst und ihr Rudel“ sorgen mussten. Wie diese anarchische Zeit bewältigt werden konnte, schildert der Autor in eindringlichen, authentisch recherchierten und oft auch skurrilen Alltagssituationen. So in der Geschichte, in der vier ausgebombte Bildungsbürger in Berlin urplötzlich einem weißen Ochsen gegenüberstehen und ihre Gedanken an einen Ochsenbraten die Frage aufwirft: Wie können vier ausgemergelte Großstädter einen Ochsen schlachten? Zu Hilfe kommt ihnen ein Sowjetsoldat, der den Fleischkoloss mit zwei Pistolenschüssen niederstreckt. Das große Schlachten mit einfachen Küchenmessern lockt bald eine ausgehungerte Schar von Männern, Frauen und Kindern an, die auch ein Stück Fleisch abhaben wollen. Ungemein realitätsnah, durch Hunderte von Quellen belegt und immer mit einem wachen Blick auf die emotionale und psychische Betroffenheit der Protagonisten, schildert Harald Jähner solche oder ähnliche Überlebensstrategien und lässt dabei namhafte Nachkriegsautoren wie Ruth Andreas-Friedrich, Günter Eich oder Wolfgang Borchert zu Wort kommen. Neben der Tristesse des Alltags erwacht immer stärker die Lust am Leben. Ein Rausch der Erwartung überfällt die Menschen und viele wollen dem Alten abschwören, Neues wagen und den Morast des Nationalsozialismus hinter sich lassen, was

    Harald Jähner lässt die Bilder sprechen

    Harald Jähner liest nicht nur, er lässt Bilder sprechen. Die Schwarz-Weiß-Fotos dokumentieren die apokalyptische Zerstörung der Städte, die desolate Wohnsituation in Ruinen, die Überlebensstrategien des Schwarzhandels und Kohlenklaus, aber auch das aufblühende Leben in den Trümmern, die Gewitztheit der Jugendlichen mit der Zigarettenwährung „Lucky-Strike“ oder die lebensgefährliche Aktion einer Hochseilartistin über einer Trümmerwüste. In jedem der zehn Kapitel wird die Entwicklung von einem rabenschwarzen Pessimismus zu einem immer mehr wachsenden Lebensoptimismus sichtbar.

    Der Autor spart die Verdrängungsmechanismen der Nachkriegszeit nicht aus, die auch in der Diskussion mit dem Publikum konkret angesprochen werden. Sein Fazit am Ende dieser beeindruckenden zwei Stunden lautet deshalb: Trotz der Verdrängung der Vergangenheit und trotz der massiven Rückkehr der NS-Eliten in staatliche Positionen konnte sich eine vom Nationalsozialismus geläuterte Gesellschaft durchsetzen, für ihn das viel größere Wunder als das sogenannte Wirtschaftswunder.

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