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Serie: Die Schuldenspirale und der Schulanfang

Serie

Die Schuldenspirale und der Schulanfang

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    Am Schulanfang bekommen die Eltern der Abc-Schützen eine lange Liste, was alles gebraucht wird. Für sozial schwache Familien reichen die 100 Euro für Schulmaterial, die sie bekommen, nie aus. Oft setzt so etwas eine Schuldenspirale in Gang. Deswegen meint Ingrid Braun: Das ist nicht gerecht.
    Am Schulanfang bekommen die Eltern der Abc-Schützen eine lange Liste, was alles gebraucht wird. Für sozial schwache Familien reichen die 100 Euro für Schulmaterial, die sie bekommen, nie aus. Oft setzt so etwas eine Schuldenspirale in Gang. Deswegen meint Ingrid Braun: Das ist nicht gerecht. Foto: Peter Kneffel dpa

    Was ist für Sie Gerechtigkeit?

    Ingrid Braun: Gerechtigkeit heißt für mich, dass alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Religion/Weltanschauung, Krankheit/Behinderung, sexueller Identität und so weiter, in einer Gesellschaft gelingend zusammenleben können. Jedem Mitglied der Gesellschaft soll die Teilhabe an der Gesellschaft durch die Gewährung von Rechten und materiellen Mitteln ermöglicht werden.

    Wer sucht bei Ihnen Gerechtigkeit?

    Braun: In der Kasa (Kirchliche Allgemeine Sozialberatung der Diakonie Neu-Ulm, in Dillingen gibt es eine Außenstelle) geht es meist um Fragen der Existenzsicherung. Betroffen sind Familien im unteren Einkommensbereich oder in Trennungssituationen, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Kranke und Migranten. In der Beratung kommt immer wieder – meist zu Schuljahresbeginn – das Thema Kosten für Schulmaterial zur Sprache. Eine Familie, die etwa ergänzende Hartz-IV-Leistungen bekommt, erhält für ein schulpflichtiges Kind zum Schuljahresbeginn für Schulmaterial 100 Euro. Das reicht in aller Regel nicht aus, um alle Hefte, Einbände, Geodreieck, Malkasten, Sportkleidung und vieles andere mehr zu besorgen. Meistens wird danach auch noch Geld für Papier und bestimmte Bücher/Arbeitsheft eingesammelt. Die Eltern entnehmen das Geld dann aus dem Regelsatz, der vorgesehen ist für Kleidung und Essen. Somit fehlt das Geld an anderer Stelle, etwa für warme Winterkleidung fürs Kind. Oder – um das Beispiel weiterzuführen – es wird der Stromabschlag nicht oder nicht pünktlich bezahlt. Nahezu unmöglich ist es für arme Familien, wenn an weiterführenden Schulen bestimmte Fachbücher selbst angeschafft werden müssen. Zugang zu Bildung sollte nicht von der wirtschaftlichen Situation oder der sozialen Herkunft abhängig sein. Eltern empfinden diese Situation als sehr ungerecht und belastend. Sie sehen die Chancen des Kindes, diesem Kreislauf zu entkommen, immer mehr schwinden und fühlen sich dafür verantwortlich, obwohl sie selbst in einem ungerechten Kreislauf aus prekärer Beschäftigung und Armut feststecken. Und die Abwärtsspirale dreht sich weiter. Aus dem einmal nicht gezahlten Stromabschlag laufen unter Umständen Stromschulden auf und enden in einer Sperrung. Aus der einmal nicht gezahlten Miete laufen vielleicht Mietschulden auf, und ehe man sich’s versieht, wird die Räumungsklage angedroht. Oft kommen die Menschen erst dann in die Beratung, mit einem Berg an Problemen. Und angefangen hatte die Spirale doch ganz klein mit einer langen Einkaufsliste am Schuljahresanfang.

    Wo fehlt Ihnen die Gerechtigkeit manchmal?

    Braun: Meiner Meinung nach geschieht Unrecht, weil für sozial Schwache nicht genügend bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist. Menschen, die Arbeitslosengeld II oder Grundsicherung im Alter beziehen, sind angehalten, sich günstigen Wohnraum zu suchen. Es gibt sogenannte Angemessenheitsgrenzen bezüglich Größe, Höhe der Miete und Höhe der Nebenkosten, die nicht überschritten werden dürfen. Übersteigen die „Kosten der Unterkunft“ die Angemessenheitsgrenzen doch, werden nach einiger Zeit nur noch die angemessenen Kosten von den Behörden übernommen. Die übersteigenden Kosten muss der Betroffene aus seinem Regelsatz bezahlen. Er muss es sich also im wahrsten Sinne des Wortes „vom Munde absparen“. Hinzu kommt, dass einfacher, günstiger Wohnraum oft ein entsprechendes Alter hat und nicht oder ungenügend energetisch saniert worden ist. Deshalb haben die Betroffenen oft deutlich erhöhte Heizkosten. Hinzu kommt: Alte Elektrogeräte brauchen viel Strom. Vom Amt übernommen hingegen werden wieder nur die „angemessenen Kosten“. Auf den übersteigenden Kosten bleiben die Betroffenen wieder sitzen. Da sie meist Mieter sind, haben sie auf Sanierungsmaßnahmen keinen Einfluss, und anderen, besseren Wohnraum gibt es nicht. Die übersteigenden Heizkosten müssen wiederum aus dem Regelsatz bezahlt werden, und wieder setzt sich die ungute Spirale in Gang, dass Geld an anderer Stelle beziehungsweise an allen Ecken und Enden fehlt. Mit aufwendigen, nervenaufreibenden Ratenzahlungsvereinbarungen mit Energieversorgern müssen die betroffenen Familien die Sache irgendwie am Laufen halten, um nicht obdachlos zu werden. Von dieser Ungerechtigkeit sind meist Familien im unteren Einkommensbereich, Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Kranke und Migranten betroffen. Und sie haben keine Chance, diesem Kreislauf zu entkommen, da es keine freien Wohnungen für sie gibt. Finanzielle Schwierigkeiten sind da vorprogrammiert.

    Was müsste die Bundesregierung ändern, damit es gerechter zuginge?

    Braun: Solche Benachteiligungen führen fast immer zu Armut. Damit es gerecht in unserer Gesellschaft zugehen kann, ist es notwendig, dass allen diesen betroffenen Gruppen eine menschenwürdige Existenz möglich ist:

    Für Kinder braucht es eine einheitliche finanzielle Förderung statt eines undurchsichtigen Dschungels aus Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag, Kinder-Regelsätzen und Bildungs- und Teilhabepaket.

    Alleinerziehende brauchen im Rahmen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders flexible Kinderbetreuungszeiten und familiengerechte Arbeitszeiten. Für alleinerziehende Frauen und Männer muss ausreichend bezahlte Erwerbstätigkeit vorhanden sein.

    Der Zugang zu Bildung darf nicht von wirtschaftlicher Situation beziehungsweise sozialer Herkunft bestimmt werden.

    Löhne müssen so gestaltet werden, dass Altersarmut verhindert wird. Haushalts- und Erziehungszeiten müssen auf die Rentenanwartschaft sowie auf das Rentenniveau angerechnet werden.

    Gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt ebenso wie der Abbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse.

    Die medizinische Versorgung ist der Lebenslage im Alter anzupassen, und es braucht mehr Unterstützung für pflegende Angehörige.

    Die Rahmenbedingungen für den sozialen Wohnungsbau müssen verbessert werden. Für den Neubau von Mietwohnungen im unteren Preissegment sind Anreize zu schaffen.

    Um auch Langzeitarbeitslose mit besonderen Vermittlungshindernissen in Arbeit und Beschäftigung zu bringen, muss ein geförderter Arbeitsmarkt eingeführt werden. So kann man ihnen die Möglichkeit geben, selber Erwerbseinkommen zu erwirtschaften. Interview: Cordula Homann/Foto: Horst von Weitershausen

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