Eine Kita, die kennt jeder. Aber eine Wota? "Weiß jemand, was das ist?", fragt Carsten Voss die Touristengruppe. Stirnrunzeln. "Eine Wota ist eine Wohnungslosen-Tagesstätte", erklärt der Stadtführer. In Berlin gibt es ein Dutzend Wotas. Dort können Bedürftige gratis frühstücken, duschen oder sich im Winter einfach nur aufwärmen. "Wotas sind ganz wichtig im Leben eines Obdachlosen", sagt Voss. Dann führt er die Gruppe weiter durch seinen Schöneberger Kiez, es geht zum Viktoria-Luise-Platz.
Voss ist kein gewöhnlicher Stadtführer, bis vor einigen Monaten schlief der 54-Jährige selbst auf Parkbänken. Jetzt macht er Sightseeing beim Projekt "Querstadtein - Obdachlose zeigen ihr Berlin". Das ist neu in der Hauptstadt und kommt schon gut an. 30 Neugierige haben sich diesmal der anderthalbstündigen Tour angeschlossen. Wo schläft man, wenn man kein Bett hat? Wie wird man obdachlos? Das kann man für 9,40 Euro pro Person erfahren.
Mit seiner khakifarbenen Freizeithose und den Lederslippern sieht man Voss nicht an, dass er selbst mal "auf Platte", also im Freien lebte. Der Diplomkaufmann arbeitete als Manager bei einer Modefirma. "Dann kam der Burn-out", erzählt Voss. Er konnte plötzlich nicht mehr arbeiten, brach alle sozialen Kontakte ab. Dann die Räumungsklage, Voss fliegt aus seiner Wohnung. Zunächst kommt er in einer Gartenlaube von Freunden unter, im Winter landet er endgültig auf der Straße. Also kehrt Voss wieder zum Viktoria-Luise-Platz zurück, wo er vorher wohnte. Nur schläft er jetzt auf einer Parkbank.
"Viele, die obdachlos werden, bleiben in ihrem Kiez", sagt Sally Ollech. Die 30-Jährige hat das Projekt "Querstadtein" mitgegründet. Das Ziel: Die Menschen sollen mehr Achtsamkeit entwickeln für obdachlose Mitbürger. "Wir hoffen, dass die Teilnehmer einen anderen Blick auf Berlin bekommen", sagt Ollech. Man kooperiere mit verschiedenen sozialen Trägern. Mit Elendstourismus oder "Slum-Touren" habe das Projekt nichts zu tun.
Laut Schätzungen gibt es in Berlin etwa 10 000 Wohnungslose, davon sind 4000 obdachlos - Tendenz steigend. Aus Osteuropa kommen immer mehr "Penner" in die Hauptstadt, wie die Vagabunden verächtlich genannt werden. Dabei ist nicht jeder Obdachlose verwahrlost, nicht jeder ein Alkoholiker. Viele seien auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen, sagt Voss, der mittlerweile wieder eine Wohnung hat und Hartz IV bezieht. Er hat sich aus der Misere wieder befreit.
"Ich will meinen Blick schärfen", meint Jutta Blümel. Die Krankenhaus-Seelsorgerin las in der Zeitung vom Sightseeing und buchte gleich eine Tour. Armut und Obdachlosigkeit sei doch eines der großen Probleme in Berlin, sagt sie. Wünschenswert wäre es, wenn mehr Menschen helfen würden. Man könne etwa bei Suppenküchen mitarbeiten oder Lebensmittel zur Tafel bringen. "Es gibt so viele Möglichkeiten."
Die Touristengruppe ist inzwischen am Bahnhof Zoo angekommen. Die Gegend sei früher wie heute die Anlaufstation für Obdachlose in Berlin, sagt Stadtführer Voss. "Ullrich" sei der erste 24-Stunden-Supermarkt in der Stadt gewesen. Schlafen könne man im Tiergarten auf bequemen Parkbänken. Und es gebe die Bahnhofsmission, wo täglich 700 Obdachlose ein- und ausgingen. Auch die ganz Heruntergekommenen strandeten am Ende dort, sagt Voss. So sei der Bahnhof Zoo nicht nur der Ort, wo Obdachlose in Berlin als Erstes hingingen. "Für viele ist es auch der letzte Punkt, wo sie landen." (dpa)
Informationen zum Projekt Querstadtein