Es ist ein grauer, kalter Wintertag, an dem Florian Heinbach und Lisa Hitzke über ein Projekt erzählen, das bunt ist. Bunt, weil es um die Vielfalt der Menschen in einer Gesellschaft, weil es um lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter und queere Menschen, die LGBTQ, geht.
Der Einrichtungsleiter des Seniorenheims der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Königsbrunn und die Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt bei der AWO Schwaben haben gerade damit begonnen, das Modellprojekt des AWO-Bundesverbandes „Queer im Alter – Öffnung der Altenhilfe für LGBTQ“ für das Königsbrunner Seniorenheim inhaltlich umzusetzen.
Ziel ist, das Königsbrunner Seniorenheim auch für solche Seniorinnen und Senioren zu öffnen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans- und intergeschlechtlich oder queer identifizieren, und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihren Lebensabend vorurteilsfrei zu verbringen.
Weil nur zwischen fünf und zehn Prozent der Gesamtbevölkerung der LGBTQ-Community angehören und sich frühere Generationen kaum geoutet haben, sind queere Menschen in der Altenhilfe bisher oft unsichtbar. Viele ziehen sich zurück oder erfahren manchmal sogar Diskriminierung.
Um das zu ändern, und weil der Bedarf dafür da ist, wurde 2019 vom AWO-Bundesverband auf Anregung von LGBTQ-Communities und unter Begleitung verschiedener Verbände der LGBTQ ein umfangreicher Leitfaden „Queer im Alter“ erstellt.
Auch Instrumente für die Praxis werden darin mitgegeben, denn die Anforderungen aus dem Leitfaden in die Praxis umzusetzen, ist der nächste Schritt, den die AWO Schwaben gehen will. In Königsbrunn wird sie dabei von der Schwulenberatung Berlin e.V. begleitet.
Der Verein zertifiziert Pflegeeinrichtungen und -dienste nach bestimmten Kriterien und vergibt bei Einhaltung das Qualitätssiegel „Lebensort Vielfalt“. „Weil sich der Großteil dieser Kriterien mit dem Leitfaden der AWO deckt, haben wir uns dazu entschieden, eine solche Zertifizierung für das Siegel anzugehen“, erklärt Marion Leichtle-Werner, stellvertretende Vorstandsvorsitzende beim Bezirksverband AWO Schwaben, in deren Ressort das Thema fällt. Pilotprojekt dafür sollte das Königsbrunner Seniorenheim sein. Es soll ganz offiziell zu einem „Lebensort der Vielfalt“ werden.
LGBTQ sollen dort so akzeptiert und respektiert werden, wie sie sind – oder beschlossen haben zu sein. Niemand soll sich dafür rechtfertigen müssen, wer einen besucht, mit wem man lebt oder wie man sich kleidet. Vermeintliche Abweichungen von körperlichen Normen werden respektvoll behandelt.
„Wir möchten einen diskriminierungsfreien Ort schaffen, und zwar ganz systematisch und auch strukturell“, erklärt Heinbach. Das bedeutet: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen müssen im Umgang mit LGBTQgeschult, Dokumente aller Art in der Verwaltung oder auch die Homepage geändert, falls nötig über HIV-infizierte Bewohnerinnen und Bewohner aufgeklärt und auch praktische Dinge geklärt werden.
„Da zählt die Bücherauswahl im Bücherschrank genauso dazu wie eine geschlechtsneutrale Toilette oder einfach nur die richtige Ansprache von LGBTQ-Bewohnerinnen und -Bewohnern“, so Heinbach weiter.
„Queere Menschen über 60 haben im Leben schon oft Diskriminierung erlebt und dass sie nicht so offen leben können wie andere“, ergänzt Hitzke. „Viele ältere LGBTQ haben keine Kinder, aber eine Wahlfamilie, die mit in die Pflege eingebunden werden soll“, so Hitzke weiter.
„In vielen Senioren- und Pflegeeinrichtungen wird das aber zum Beispiel bis heute kaum berücksichtigt. Das verstärkt die Sorge, in einer Pflegeeinrichtung nicht mehr so leben zu können, wie man möchte, und erneut Diskriminierung zu erleben.“ Die AWO Schwaben will Betroffenen deshalb mit ihrem Leitfaden für alle ihre Einrichtungen und mit der Zertifizierung mit dem Qualitätssiegel diese Angst nehmen.
In Königsbrunn hat der Zertifizierungsprozess gerade erst begonnen. Gemeinsam mit der Schwulenberatung Berlin wurden gemäß einem Kriterienkatalog verschiedene Maßnahmen beschlossen – neun Monate will man sich für die Umsetzung Zeit nehmen. Am Ende werden diese Maßnahmen vom Verein abgenommen und das Qualitätssiegel verliehen.
Das Projekt muss dabei nicht nur von der Heimleitung und dem Heimträger, sondern ganz besonders auch von den rund 70 Mitarbeitenden, von der Küchenkraft bis zu den Pflegenden, mitgetragen werden. Denn neben der Akzeptanz dafür kommen auf sie zusätzlich zur täglichen Arbeit und zu den berufsbedingten Schulungen die mit der Zertifizierung verbundenen Fortbildungen und neue Aufgaben hinzu.
„Mit den Expertinnen und Experten der Schwulenberatung Berlin, die den Zertifizierungsprozess begleiten, haben wir dazu Fachleute an Bord“, sagt Hitzke und Heinbach ist optimistisch, dass die Akzeptanz für die LGBTQ im Heim kommt – auch bei den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, die ebenfalls mitgenommen werden müssen. Im Bewohnerparlament wurde das Projekt deshalb schon vorgestellt. Außerdem sind Veranstaltungen zu LGBTQ wie Lesungen oder Filmabende denkbar, um Bewohnerinnen und Bewohnern einen niederschwelligen Einstieg in die Thematik zu geben.
Die Erfahrungen, die alle Beteiligten mit dem Zertifizierungsprozess des Königsbrunner Modellprojekts machen, sollen weiteren Einrichtungen der AWO Schwaben zugutekommen. Man will damit eine Lücke in der Versorgung queerer Menschen im Alter schließen – ein Thema, das bei anderen Trägern von Seniorenheimen (noch) keins ist.
Bundesweit gibt es derzeit vielleicht ein Dutzend solcher von der Schwulenberatung Berlin zertifizierten Heime, die meisten in Großstädten wie Köln, München oder Berlin. In Schwaben wäre das Seniorenheim der AWO in Königsbrunn das erste.
Dass dieses Modellprojekt jetzt in der Brunnenstadt umgesetzt wird, hängt mit dem Selbstverständnis des AWO-Bezirksverbands Schwaben zusammen. Dort setzt man sich mit der Vielfalt in der Gesellschaft auseinander. Diversity in allen Bereichen wird als Chance gesehen. Es wurden eine Charta der Vielfalt unterzeichnet und bereits verschiedene Projekte auch in der Personalführung und -gewinnung umgesetzt.
Denn ein „Lebensort der Vielfalt“ sollte auch ein „Arbeitsort der Vielfalt“ sein. Man möchte eine Arbeitsumgebung schaffen, in der sich jeder Mensch willkommen fühlt. Queere Menschen finden sich schließlich auch unter den Mitarbeitenden. Auch um ihre Akzeptanz im Arbeitsalltag geht es der AWO Schwaben. „Wir wollen alle erreichen“, sagt Hitzke, „Mitarbeitende, Bewohnerinnen und Bewohner“. Ein Ziel, das Schule machen sollte, denn unsere Gesellschaft ist bunt.
Weitere Informationen zum Königsbrunner Seniorenheim der AWO Schwaben finden Sie auf deren Internetauftritt.
Dieser Beitrag stammt aus unserer Verlagsbeilage "Regional genial".