Im Landkreis Aichach-Friedberg läuft derzeit ein Pilotprojekt zum Einsatz von Telepräsenzrobotern im Unterricht, mit anderen Worten: Avataren, die schwerkranken Kindern die aktive Teilnahme am Schulleben ermöglichen. Der schwerkranke Thomas ist der erste Schüler der FOS Friedberg, der einen solchen Avatar testen darf. Ein Besuch bei ihm zu Hause.
„Hey Roland, schneid dir mal die Haare! Ich kann nichts sehen.“ Thomas sitzt vor seinem iPad – der Bildschirm ausgefüllt von der wilden Frisur seines Klassenkameraden. Roland dreht sich um, grinst schelmisch, rückt sich dann wie gewünscht aus dem Bild und gibt Thomas den Blick auf seinen Chemielehrer frei. Der steht im Chemiesaal der FOS Friedberg und unterrichtet. Es ist 9.52 Uhr und die dritte Schulstunde läuft.
Anders als seine Klassenkameradinnen und -kameraden sitzt Thomas nicht im Chemiesaal, sondern zu Hause am Esstisch seiner Eltern. Von dort verfolgt er den Unterricht auf dem iPad. Im Chemiesaal ist aber keine Lücke, sondern dort nimmt ein Avatar Thomas’ Platz ein. Er ist einer von drei Geräten, die im Rahmen eines Pilotprojekts vom Landkreis Aichach-Friedberg getestet werden – unter dem etwas sperrigen Begriff „Einsatz von Telepräsenzrobotern im Schulunterricht“. Der Versuch läuft seit November 2023und noch bis April2024 . Danach soll evaluiert werden, wie und ob das Projekt fortgeführt werden soll, heißt es aus dem Bildungsbüro des Landkreises.
Thomas ist der erste Schüler, der einen solchen Avatar testen darf. Oder muss, denn das Ganze hat natürlich einen ernsten Hintergrund: Thomas hat Krebs. Regelmäßige Klinikaufenthalte, die Nebenwirkungen der Chemotherapie und sein dadurch geschwächtes Immunsystem machen es dem 16-Jährigen unmöglich, den Unterricht physisch zu besuchen. Das erledigt nun der Avatar für ihn.
Morgens wird er aus dem Direktorat geholt – meist erledigt das eine der beiden Klassensprecherinnen – und in seiner Tasche ins Klassenzimmer gebracht. Dort wird der Avatar angeschaltet und Thomas kann sich via Internet verbinden. Über den Avatar nimmt er nicht nur passiv am Geschehen teil, das Gerät hat einige Features, die es Thomas ermöglichen, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Er kann den Kopf drehen, über seine Augen seine Stimmung mitteilen. Mit einem blau leuchtenden Kopf signalisiert Thomas, wenn er nur als passiver Zuschauer dabei sein möchte – beispielsweise wenn er zu geschwächt ist.
Was bringt der Avatar?
Schwerkranke Kinder können nicht selbst am Unterricht teilnehmen. Damit sie keinen Stoff verpassen und nicht sozial isoliert werden, können sie über den Avatar am Unterricht teilnehmen und mit ihren Mitschülerinnen und -schülern kommunizieren und interagieren.
Was können Schülerinnen und Schüler mit dem Avatar steuern?
Der Avatar in Friedberg, das Modell AV1, wird über eine App bedient. Gesteuert werden kann darüber
Wie funktioniert die Technik des Avatars und wie sicher ist der Einsatz?
Der Avatar loggt sich ins schulische W-Lan ein. Für Aussetzer ist auch eine 4G-Simkarte eingebaut. Der Schüler oder die Schülerin muss sich bei jeder Nutzung mit einer neuen PIN einloggen. Alle Daten werden verschlüsselt übertragen. Eine Aufzeichnung oder Screenshots des Unterrichts sind nicht möglich.
Will er sich melden, klickt er auf seinem Bildschirm das entsprechende Symbol an und im Klassenzimmer fängt der Avatar an zu blinken. Seine Antwort kann Thomas in drei verschiedenen Lautstärken geben – wobei die leiseste, der Flüstermodus, eher einen anderen Sinn hat: „Da verstehen mich eigentlich nur meine direkten Banknachbarn“, verrät Thomas. Gut fürs Quatschen? Der 16-Jährige sagt dazu nichts, lächelt aber verschmitzt. Klassenlehrerin Laura Leuthe findet das nicht verwerflich. Schließlich hat der Avatar ja nicht nur den Zweck, den Unterricht zu Thomas nach Hause zu transportieren, sondern soll ihm die Möglichkeit geben, mit der Klasse so normal wie möglich zu agieren. „Da gehört ein bisschen Ratschen und Spaß einfach dazu“, sagt sie.
Leuthe ist gleichzeitig auch Schulpsychologin an der FOS Friedberg und kann dem Avatar nur Vorteile abgewinnen. „Thomas ist weiter Teil der Klassengemeinschaft, kann sich aktiv einbringen und verpasst keinen Stoff.“ Auch Schulleiterin Hermine Scroggie hält das Gerät für einen „absoluten Gewinn“. Sie verrät, dass sie schon eine zweite Interessentin für eines der drei Geräte des Landratsamtes hätte. „Wir hoffen inständig, dass das Projekt fortgesetzt wird und wir unseren Schülerinnen und Schülern diese Möglichkeit weiterhin bieten können“, sagt sie.
Für Thomas’ Avatar hat sie aus einem alten Herrenhemd eine Krawatte genäht und mit seinem Namen bestickt. Die wird von einer Klassenkameradin auch schön hingerichtet, als sie Thomas zur Gruppenarbeit an ihren Platz holt. Das passiert ganz selbstverständlich. Klasse wie Lehrerschaft haben sich gleichermaßen schnell an den Avatar gewöhnt – es ist Thomas, nur eben in anderer Gestalt.
Und wie ist es für den 16-Jährigen selbst? „Ich bin schon sehr froh über diese Möglichkeit“, sagt er. „Es ersetzt den Kontakt natürlich nicht zu 100 Prozent, aber es ist viel besser als während der Corona-Zeit.“ Da hat Thomas – wie alle Schülerinnen und Schüler – Erfahrung mit passivem Homeschooling vor der starren Kamera gemacht, deshalb kann er gut vergleichen. Doch trotz aller Vorteile: Er freut sich auf die Zeit, wenn er wieder selbst im Chemiesaal in Friedberg sitzen darf – als er selbst. Dann gerne auch mit Rolands ausufernder Frisur im Blickfeld.