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Mutmachermenschen: Hilfe nach psychischer Erkrankung

Mutmachermenschen

Hilfe nach psychischer Erkrankung

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    Immer ein offenes Ohr: Edith Almer vermittelt zwischen Betroffenen und Arbeitgebern.
    Immer ein offenes Ohr: Edith Almer vermittelt zwischen Betroffenen und Arbeitgebern. Foto: Mutmachermenschen

    Ritsch! Mit einer geübten Handbewegung entfernt Harald (zum Schutz ihrer Privatsphäre sind die Namen aller Betroffenen auf deren Wunsch geändert) die äußere ausgefranste Schicht des Schilfstängels und legt ihn in einen Karton. Ritsch! Wieder einer fertig. Ab damit in den Karton. Und so geht das eine ganze Weile weiter. Was sich hier so eintönig anhört, ist für Harald ein großer Schritt. Denn hier, beim Entfernen von Schilffasern, hat er eine Aufgabe. Eine, der er gewachsen ist, eine, die ihn vom Nichtstun zu Hause abhält und eine, die ihm wieder eine Perspektive eröffnet.

    Nach einer Depression ist man "raus aus dem System"

    Denn Harald war schwer depressiv und musste deswegen seinen Job aufgeben. Er bezieht Erwerbsminderungsrente und ist damit „raus aus dem System“, wie Edith Almer erklärt. „Menschen, die aufgrund von psychischen Erkrankungen nur als eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeitsfähig gelten, haben kaum mehr Chancen auf die Rückkehr ins Arbeitsleben. Es gibt keine Anlaufstellen, keine Vermittlung, keine Perspektiven.“ Doch genau das sei nötig, denn ohne Perspektiven verschlimmere sich das Krankheitsbild oft noch weiter. Ein Teufelskreis, den Edith Almer und ihre Mitstreiter durchbrechen wollten.

    Zu zwölft gründeten sie deshalb im Jahr 2014 die Mutmachermenschen, eine soziale Produktivgenossenschaft von, mit und für Menschen, die nach einer psychischen Erkrankung wieder Fuß im Berufsleben fassen wollen.

    Mutmachermenschen: Erste Produktivgenossenschaft in Deutschland

    Almer ist Geschäftsführender Vorstand, sie erklärt: „Unsere Genossenschaft – übrigens die deutschlandweit Erste ihrer Art – ist in zwei Bereiche aufgeteilt. Einmal gibt es die Manufaktur, in der wir in Handarbeit allerlei nützliche Gegenstände herstellen. Hier finden Betroffene eine erste Beschäftigungsmöglichkeit nach ihrer Erkrankung. Der zweite Bereich ist die Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.“

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    Durch ihre langjährige Coaching-Erfahrung hat Edith Almer ein großes Netzwerk an potenziellen Arbeitgebern, mit denen sie individuelle Verträge aushandeln kann – und die den Mut haben, Arbeitsplätze nicht von der Stange zu schaffen. Als Beispiel erzählt sie von einer Frau, die als Schreibkraft in einer Anwaltskanzlei untergekommen ist. „Sophie* kann ihre Umwelt schlecht filtern, alles strömt ungebremst auf sie ein.“ Ein Gemeinschaftsbüro kam deshalb nicht infrage. „Zusammen mit ihrem Arbeitgeber haben wir ihren Arbeitsplatz so gestaltet, dass sie abseits von den Kollegen schreiben kann und immer einen Tag Pause hat. Dadurch kann sie besser und konzentrierter arbeiten.“

    Solche Geschichten weiß die Vermittlerin viele zu erzählen – hat sie doch alle Betroffenen selbst vermittelt – und begleitet sie weiterhin in ihrem Berufsalltag. Sie weiß: „Psychisch Erkrankte möchten nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Sie wünschen sich – so wie jeder – Normalität an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen, sie haben eben oft nur etwas andere Anforderungen an Normalität.“

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    Zeitdruck setzt psychisch Erkrankte unter Stress

    Erste Erfahrungen mit Normalität können Betroffene in der Manufaktur in der Blücherstraße in Augsburg machen. Hier sitzt Harald und bearbeitet die Schilfstängel. Nebenan in der Werkstatt geht es laut zu. Schreinermeister Johann Kanefzky überwacht, dass die Holzteile richtig in die Kreissäge eingelegt werden. Hinter Harald hantiert Peter* mit der Klebeflasche. Jeder Schritt zum fertigen Bienenhotel ist Handarbeit. Oder zum Schlüsselbrett, Igelhaus, Nistkasten, Vogelhäuschen – das Sortiment kann sich sehen lassen.

    Wer welchen Schritt macht, wann und wie oft – das dürfen die Betroffenen selber entscheiden. „Jeder macht, was er kann und wie viel er kann“, erzählt Hubert Schmucker. Er ist ebenfalls Gründungsmitglied und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Mutmachermenschen. „Wir geben weder Stückzahl noch Fristen vor – das gibt Selbstsicherheit und motiviert“, erzählt Schmucker. „Psychisch Erkrankte haben oft ein großes Problem mit Zeitdruck – das setzt sie unter Stress. Hier in der Manufaktur können sie in ihrem eigenen Tempo Fort- oder auch mal Rückschritte machen, je nach Tagesform. Und mit der Zeit übernehmen sie gern auch immer kompliziertere Aufgaben.“

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    Dass dies der richtige Weg ist, zeigt das Beispiel von Beate*. Sie kam im Februar 2019 in die Manufaktur. „Ich war erst sehr unsicher, ob das das Richtige ist“, erzählt sie. Aber dass sie ihre Ressourcen selbst einteilen konnte, mal wenig, dann aber wieder ganz viel geschafft hat, hat sie selbstbewusster gemacht. „Hier hat mich niemand verurteilt, wenn ich mal einen schlechten Tag hatte. Im Gegenteil: Es gab immer jemanden zum Reden und Austauschen. Ich durfte einfach so sein, wie ich bin.“

    Wiederverwendbare Abschminkpads aus Augsburg

    Nach kurzer Zeit war Beate mutig genug, nicht mehr nur die vorgegebenen Schritte zu tun, sondern eigene Ideen einzubringen: neue Formen für die Bienenhotels oder selbst genähte Masken für die Manufaktur-Mitarbeiter. Höhepunkt ihrer Manufaktur-Karriere war das Projekt „Naturschwärmer“ mit Studenten der Uni Augsburg. Im Rahmen ihres Studiums haben diese den Verein Enactus Augsburg gegründet, der zum Ziel hat, für Herausforderungen sozialer, ökologischer oder ökonomischer Art nachhaltige Lösungen zu finden – etwa das Müllproblem von Abschminkpads.

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    Beate als gelernte Näherin hat die Studenten bei deren Idee beraten, wiederverwendbare Abschminkpads herzustellen und zu vertreiben. Das Projekt ist abgeschlossen, die Pads werden in der Blücherstraße gefertigt, verpackt und über die Homepage verkauft. Und Beate ist bereit für eine neue Aufgabe: Demnächst fängt sie als Bäckereiverkäuferin an. Harald ist noch nicht so weit. Aber das ist auch gut so. „Jeder wie er kann“, sagt Edith Almer. „Bis man selbst genügend Mut hat, weiterzugehen. Dann haben wir unsere Aufgabe erfüllt.“

    So kann man die Genossenschaft unterstützen

    Die Produkte und Erzeugnisse der Mutmachermenschen kann man im Online-Shop auf der Homepage der Genossenschaft erwerben. Damit unterstützt man deren Arbeit und wird selber zum Mutmacher.

    Weil die Mutmachermenschen e.G. nicht gewinnorientiert arbeitet und ihren Mitarbeitern nur Motivationszahlungen leisten kann, wurde 2018 der Förderverein „Freunde der Mutmachermenschen gem. e.V.“ ins Leben gerufen. Der Verein unterstützt die Genossenschaft mit Spendengeldern, Sachaufwendungen und individuellen Hilfeleistungen für ihre Mitglieder. Wer die Mutmachermenschen finanziell oder anderweitig unterstützen möchte, kann sich an den Verein Freunde der Mutmachermenschen Augsburg e.V. in der Blücherstraße 145, 86165 Augsburg, wenden. Der Kontakt ist auch telefonisch unter (0821) 65060550 oder per E-Mail an info@freunde-mutmachermenschen.de möglich.

    Weitere Artikel aus der Verlagsbeilage "Unsere Region, unsere Heimat" gibt es hier.

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